MM_Marx
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1. Oktober 2010, 11:19 Uhr, Geschrieben von Miriam Meckel

Warum Brücken laufen können

Rede zum 100. Geburtstag des Annette-Gymnasiums in Düsseldorf-Benrath

Kann man eine Rede mit einem Abschied beginnen? In diesem Fall schon. Ich erinnere mich sehr genau an den Tag vor fast 25 Jahren, an dem ich Abschied von dieser Schule genommen habe. Es war ein schöner, sommerlicher Tag Ende Mai 1986, und ich stand mit einigen Mitabiturientinnen und -abiturienten an der Treppe der Tür zum Schulhof. Der festliche Teil unserer Abiturfeier war bereits zu Ende und jetzt standen wir da mit einem Sektglas in der Hand und schauten noch einmal gemeinsam auf den Schulhof. Und dann sagte einer von uns plötzlich: „Das werde ich vermissen.“ Und es wurde für einen Moment ganz still. Da habe ich gedacht: Hier geht etwas zu Ende, das wir so nie wiederbekommen werden. Die Freiheit des umfassenden Lernens und die Freiheit, die es bedeutet, als Individuum, als Persönlichkeit noch nicht festgelegt, nicht „fertig“ zu sein.

Vermutlich können viele Schülerinnen und Schüler das Gefühl, das diesem Satz zugrunde lag, während ihrer Schulzeit nicht nachvollziehen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es selber bewusst so habe empfinden können, als ich noch jeden Tag als Schülerin in diese Schule gekommen bin. Aber intuitiv habe ich doch immer gespürt, was mir diese Zeit bedeutet hat.

Ich bin gerne zur Schule gegangen – weniger wegen des Lernens, manchmal gar nicht wegen der Dinge, für die ich hier hätte sein sollen. Aber wegen der vielen Fenster, die sich geöffnet haben in eine Welt, die ja als Teenager noch unberührt vor mir lag. Die Freundschaften, die ich in meiner Zeit hier in der Schule geschlossen habe, die schönen und fröhlichen, aber auch die traurigen und enttäuschenden Momente, die ich erlebt habe, die wachsende Faszination für das Lesen, für die intellektuelle Entdeckung neuer Welten, der Spass an Diskussionen und am Argument für und wider eine These, einfach die Erfahrung , was das Leben für einen bereithalten und eröffnen kann und wie viel Aufregendes darin liegt.

All das habe ich hier zu meiner Zeit in dieser Schule erlebt unter Bedingungen, die im späteren Leben so nie wiederkehren. Ich glaube, das war auch die Motivation für diesen Satz: „Das werde ich vermissen.“ Derjenige, der ihn gesprochen hat, wusste in diesem Augenblick – wie wir alle – dass die Schulzeit eine besondere Zeit ist, nicht immer einfach, aber doch – zumindest an dieser Schule – dazu angetan, jungen Menschen Perspektiven zu eröffnen und ihnen den Raum zu lassen, der für die Erprobung seiner selbst und die Entwicklung dieser Perspektiven notwendig ist.

Seit dem Tag, an dem ich aus dieser Schule ins Leben entlassen worden bin, sind viele Dinge geschehen, die mich haben neu nachdenken lassen, ob das Bild, das ich von meiner Schulzeit habe, eigentlich richtig ist. Ob meine Erinnerungen mich vielleicht trügen und ich die Vergangenheit im Rückblick verkläre. Ich meine all die Diskussionen über Bildungsreformen, über Schulzeitverkürzungen, über das Versagen von Schülern und Lehrern, über das Desinteresse der Jugend, über mangelndes Engagement auf Seiten der Lernenden wie der Lehrenden, über chaotische bis kriegsähnliche Zustände an Schulen, über Amokläufe und vieles mehr. All das macht mich als heutige Beobachterin doch sehr nachdenklich, was eigentlich mit der Institution Schule passiert. Und manchmal frage ich mich auch, ob ich in paradiesischen Zeiten gelebt habe, als ich zur Schule gegangen bin, oder ob die Gegenwart immer weniger schlimm aussieht, wenn sie einmal zu Vergangenheit geworden ist.

Ich glaube das nicht. Ich glaube, es hat sich tatsächlich Einiges in den vergangenen Jahrzehnten verändert, und wir müssen lernen, uns den Herausforderungen zu stellen, die mit diesen Veränderungen verbunden sind. Dabei neigen wir manchmal  dazu, alle Veränderungen zuweilen als Entwicklungen zum Negativen zu betrachten, eher die Nachteile von Veränderungen als die Chancen zu betonen, die ja auch in allem Neuen liegen. Und so sind auch die öffentlichen, vor allem die medialen Diskussionen geprägt, die wir über Schule und Bildung seit Jahren führen.

Ich bin als Kommunikationswissenschaftlerin weit davon entfernt, tatsächlich zu glauben, dass Medien die Wirklichkeit „abbilden“ könnten. Das können sie nicht und das dürfen wir auch nicht erwarten. Aber mit jedem Diskussionsbeitrag, den ein jeder von uns zur öffentlichen Diskussion über die Schule als Bildungsinstitution beisteuert, schafft er einen Teil dieser Wirklichkeit, denn wenn diese These weithin medial verbreitet wird, ist sie irgendwann real.

Wir haben am Beispiel der Rütli-Schule in Berlin gesehen, wie diese Mechanismen funktionieren. Im Jahr 2006 schickte die Rektorin der Schule einen Brief an den Berliner Senat, in dem sie die Zustände an der Schule beklagte und Hilfe forderte. Der Grund: die Zusammensetzung der Schülerschaft hatte sich durch immer höhere Anteile von Migrantenkindern so geändert, dass normaler Unterricht kaum mehr möglich war. Das Lehrerkollegium formulierte daher eine längst und häufig diskutierte These der Bildungspolitik: die Hauptschule müsse „aufgelöst werden zugunsten einer neuen Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung“.

Und dann legte die Medienmaschinerie los. „Zuviel Gewalt – eine Schule gibt auf“ oder „Rektorin will eigene Schule schließen“, so lauteten die Schlagzeilen zu dem Brief, den die wenigsten wirklich gelesen hatten. Die Rütli-Schule bekam das Label „Terror Schule“. Inzwischen ist an der Rütli-Schule vieles verändert und verbessert worden. Doch jeder von ihnen wird sich irgendwie an diesen Vorfall erinnern. Zur Normalität wird diese Schule nie mehr zurückkehren.

Manches an der gegenwärtigen Debatte um das Buch und die Thesen Thilo Sarrazins erinnert doch gewaltig an das Beispiel Rütlischule. Es geht wieder um Integration. Es geht wieder um Aussagen, die im Fall Sarrazin tatsächlich mit ihren Anleihen in der Biologistik und Eugenik unerträglich sind. Und es geht wieder um einen Ausschlag in der öffentlichen Aufregungskurve, der von vielem getrieben wird, nur leider nicht in erster Linie von dem Problem, um das es eigentlich geht: Integration. Da wird über die Rolle der Bundesbank, der Bundeskanzlerin und des Bundespräsidenten diskutiert. Und da wird die Debatte geführt nach dem Muster „man wird ja wohl noch sagen dürfen“ oder „es kann ja wohl nicht wahr sein, dass das gesagt wird“. Jeder versucht, die eigene Position zu verteidigen und viele Medien agieren als Verstärker möglichst kruder Thesen zugunsten der Aufregungswelle, als „Opportunisten auf Klassenfahrt“ wie es die FAZ beschrieben hat.

Tatsächlich hat Thilo Sarrazin ein sehr wichtiges Thema in sehr fragwürdiger Weise und mit sehr falschen Argumenten auf die Agenda gesetzt. Das der Integration. Integration ist nicht von Bildung zu trennen. Deshalb ist es ein Thema, das für jede Schulform die erste Geige spielen muss. Und das gilt übrigens keineswegs nur für Migrantenkinder. Ich erinnere mich sehr gut an meine Grundschulzeit in der Gemeinschaftsgrundschule hier um die Ecke. Da gab es einige Migrantenkinder. Aber es gab vor allem eine ganze Reihe von Kindern, die Deutsche waren, aber aus einem durchaus problematischen Milieu kamen. Ich erinnere mich daran, dass ich ebenso wie andere Mitschüler gelegentlich auf dem Pausenhof grundlos und ziellos verkloppt wurde. Ich erinnere mich, dass ich eine Strafarbeit schreiben musste über das Thema: „Warum man in der Pause nicht im Müllcontainer sitzt.“ Dass ich nicht unbedingt freiwillig im Müll gesessen habe, hat damals die Lehrer nicht interessiert. Ich erinnere mich daran, wie Klaus-Dieter einen VW-Käfer knackte, kurzschloss und einige von uns mit auf Spritztour nahm. Da waren wir acht Jahre als. Klaus-Dieter war kein Migrantenkind. Aber er hatte dieselben Probleme wie viele Migrantenkinder. Ein chaotisches Elternhaus, keine Erziehung mit einem klaren Wertegerüst, kein Geld für die Dinge, die zu Bildung auch dazugehören. Klaus-Dieter war einfach ein Kind, das vermutlich sein Leben lang darunter leiden musste, was die neue Pisa-Studie soeben wieder bestätigt hat: In keinem anderen vergleichbaren Land der Welt ist der Schulerfolg so stark von Einkommen und Vorbildung der Eltern abhängig wie in Deutschland. Das ist nicht nur erschreckend. Dafür müssen wir uns wirklich schämen.

1. Was ist Bildung heute?

Das ist eine grosse Frage und ich werde darauf nur einige kleine Antworten geben können, die zum Weiterdenken anregen können. Eine Antwort können Sie aus dem bisher Gesagten ableiten. Bildung ist die wichtigste Voraussetzung für Integration. Und Integration ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass wir eine Gesellschaft in die Zukunft hinüberretten können, die nicht irgendwann von ihren inneren Fliehkräften auseinander gesprengt wird. In den Worten von Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, zur gegenwärtigen Debatte: „Integration heißt Schule, Schule und nochmals Schule. Die Schule ist nämlich der Ort, an dem Welten aufeinandertreffen, mit verbaler und körperlicher Gewalt. … Wer das Geld nicht phantasievoll in Integration investiert, wird es phantasielos in Hartz IV und Gefängnisse investieren müssen.“

Der Zusammenprall der Welten, vom dem Prantl spricht, ist eine Erfahrung, die jeder Mensch persönlich machen muss um zu verstehen, dass die eigene Lebensweise, die eigenen Standards und das eigene Glück nicht selbstverständlich sind. Dass es andere Menschen gibt, die all das nicht haben. Ich habe diesen Zusammenprall in der Grundschule erlebt, danach war ich unter meinesgleichen. Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich bin sehr dankbar für all die Chancen und Möglichkeiten, die ich zum Beispiel hier am Annette-Gymnasium gehabt habe. Aber hätte es mir geschadet, wenn ich gelegentlich weiterhin mit anderen Welten zusammengeprallt wäre? Ich glaube kaum. Wahrscheinlich hätte es mir gut getan. Die nächste Gelegenheit für einen solchen Zusammenprall, so haben meine Freundin und ich kürzlich nach langem Überlegen herausgefunden, gab es in den Theoriestunden der Fahrschule. Dazwischen lag für mich eine heile Welt. Eine nicht repräsentative heile Welt.

Die Frage, was ist Bildung heute, können wir nicht ohne einen Blick zurück in die Geschichte beantworten. In ihrem Buch „Not for profit. Why democracy needs the humanities“ plädiert die Autorin, Martha C. Nussbaum, für eine Bildung jenseits von ökonomischen Vorgaben und für ein Bildungskonzept, das sich historisch bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt, inzwischen allerdings in vielen Teilen der Welt in Bedrängnis zu geraten scheint: die Liberal Arts. Darunter versteht sie ein Grund- oder Vorstudium, das umfassend in kulturelle und religiöse Traditionen, in ästhetische Praktiken, in literarische und philosophische Texte und die Kunst der kritischen Argumentation einführen soll.

Tatsächlich steht ein solches Bildungskonzept seit einiger Zeit unter Beschuss. In den USA, wo ich gerade die Freude hatte, ein halbes Jahr mein Sabbatical als Research Fellow an der Harvard University zu verbringen, gibt es diese Tradition durchaus noch, selbst in kleinsten Städten im mittleren Westen finden sich einige berühmte Liberal Arts Colleges, die für Studentinnen und Studenten genau dies leisten: eine Einführung in die Grundlagen aller Bildung und die Künste des Denkens und Urteilens. Aber in vielen Teilen der USA, in vielen Ländern Asiens, aber auch in Europa, hat diese Tradition ziemliche Brüche erfahren. Woran liegt das? Zum einen daran dass die Bildungssysteme immer stärker einer Ökonomisierung und Standardisierung unterworfen sind. Zum anderen an dem ewigen Reformeifer mit dem wir die Bildungssysteme und -institutionen traktieren.

Wenn ich mir beispielsweise die Reformen der universitären Bildung im Zuge des Bologna-Prozesses in Europa anschaue, dann ist hier eine sehr gute Idee über eine sehr lange Zeitstrecke sehr schlecht umgesetzt worden. Ich darf dazu sagen, dass wir an der Universität St. Gallen in der Schweiz, wo ich lehre, diesen Prozess als erste Schweizer Universität und als eine der ersten europäischen Universitäten überhaupt umgesetzt und versucht haben, darauf zu achten, dass die europäische Bildungstradition dabei eben nicht über Bord geht. In St. Gallen wird dies beispielsweise dadurch sichergestellt, dass im Zuge eines jeden Fachstudiums ein sogenanntes „Kontextstudium“ absolviert werden muss, in dem die Studentinnen und Studenten ihre kulturelle Kompetenz, ihre Reflexionskompetenz und ihre Anwendungskompetenz vertiefen müssen. Ein Jurist muss folglich Sprachkurse belegen, ein Wirtschaftswissenschaftler einen Kurs über Philosophiegeschichte usf.

Das ist ein kleiner Versuch, ein grosses Problem zu lösen, aber es ist ein Versuch. Bologna hat überzeugende Ziele – ein System vergleichbarer Abschlüsse einzuführen, über ein Leistungspunktesystem die Mobilität der Studierenden zwischen den Universitäten und Ländern zu erhöhen, die europäische Zusammenarbeit bei der Qualitätssicherung bei der Bildung zu verbessern. Aber herausgekommen ist ein bürokratisches Stückwerk, das bei vielen Studentinnen und Studenten inzwischen auf Ablehnung stösst und auch in der Praxis negative Folgen zeitigt. Ich erlebe viele Studenten, die wegen Bologna nun erst recht nicht mehr für ein Semester an eine andere Universität wechseln können, weil es an der Anerkennung ihrer bisherigen Leistungen hapert oder weil der Leistungsdruck schlicht so hoch ist, dass auch aus finanziellen Gründen ein Auslandsemester nun nicht mehr in Frage kommt.

Was ist hier geschehen? In vielerlei Hinsicht verstehen wir heute an den Universitäten, aber auch schon an den Schulen, Bildung als grösstmöglichen Wissensinput durch Sach- und Fachkenntnisse mit höchstmöglicher Praxisrelevanz und Verwertbarkeit für eine Gruppe von Individuen. Aber Bildung ist nun wirklich etwas anderes, das vielmehr in der Idee der Humanities und der Liberal Arts steckt. Und diese Idee ist auch im Humboldt’sche Gedanken verankert, der mit den beiden Prinzipien des „autonomen Individuums“ und des „Weltbürgertums“ eigentlich für unsere heutige Gesellschaft und globalisierte Welt durchaus noch immer aktuell sein könnte. Vielleicht aktueller denn je.

Wenn Bildung aber nicht mehr als ganzheitliches Konzept, sondern als berechenbare und messbare Grösse für das Prozessieren von Sach- und Fachwissen, dann ist sie nicht mehr als eine Software, die so lange umgeschrieben wird, bis für jeden Anwendungsfall und jedes Problem die angemessene Lösung errechnet werden kann. Auch wenn wir in einer zunehmend technologisierten Gesellschaft leben, in der vieles inzwischen nach den Berechnungsmodellen des Computers funktioniert, kann das für Bildung nicht klappen.

Man kann ein Leben nicht berechnen, es nicht prozessieren, sich keine Lösungen für Probleme mathematisch ermitteln lassen. Man muss als Mensch Erfahrungen sammeln, und das ist ein Prozess, der viel Zeit in Anspruch nimmt, für den man Mut zum eigenen Denken und Handeln braucht und für den man sich selbst und das eigene Denken historisch, kulturell und ästhetisch einordnen können muss. Es geht also bei meiner Kritik an einem funktionalen und operationalen Bildungsbegriff nicht darum, irgendwelche idealistischen Vorstellungen zu retten oder wiederzubeleben, die längst Vergangenheit sind. Es geht auch nicht darum, ein spezielles Plädoyer für die Geisteswissenschaften zu halten, die in den vergangenen Jahren gegenüber mancher Wissenschaft leicht ins Hintertreffen geraten sind.

Es geht vielmehr darum, dass Bildung das Individuum für eine Gesellschaft ausbildet. Für die brauchen wir nämlich nicht nur Egomanen und Egozentriker, nicht Menschen die immer und überall ideal in ihrer jeweiligen Rolle funktionieren. Wir brauchen Menschen, die sich selbst in ihrer Rolle und Verantwortung in dieser Gesellschaft verorten können. Mit dieser Fähigkeit wird kein Mensch geboren. Er muss sie lernen in einem langwierigen und schwierigen Prozess.  Wenn dieser Prozess gelingt, bildet sich ein Mensch zum sozialen Wesen, zum Bürger heraus. Bildung ist also Voraussetzung für eine gelebte Demokratie. Oder, wie es der Soziologe Oskar Negt kürzlich in einem Interview mit dem Spiegel gesagt hat: „… Die Verbindung von Bildung und Demokratie ist einzigartig. Sachwissen, Berufsqualifikation ist mit jeder Gesellschaftsverfassung vereinbar, auch mit einer totalitären; politische Bildung dagegen nur mit einer demokratischen Ordnung, denn ihr Ziel ist der mündige, aufgeklärte Bürger, der es wagt, sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen.“

2. Bildung und Persönlichkeit

Wenn ein mündiger, denkender, reflektierender Mensch sich herausbildet, dann ist das ein sehr konkreter Beitrag zu einer demokratischen und lebensfähigen Gesellschaft. Wenn wir uns diesen Satz langsam durch den Kopf gehen lassen, dann wird schnell klar, welche Rolle die Schule eigentlich spielt, wie sehr wir ihre Rolle gelegentlich unterschätzen, ja manchmal gering schätzen, welche Vorsicht geboten ist, wenn von allen Seiten immer wieder an den Rahmenbedingungen von Bildung, ja konkret von der Schule herumgedoktert wird. Es wird aber auch klar, dass wir nicht einfach alle Verantwortung an die Schule delegieren können. Was im Elternhaus nicht oder schief läuft, kann die Schule nicht ausbaden. Und das ist übrigens auch nicht ihre Aufgabe. Auch wenn immer häufiger ungewollt diese Rolle übernehmen muss, gilt weiterhin: Schule ist kein Reparaturbetrieb für mangelnde familiäre Sozialisation.

Ich habe oft den Endruck, dass die Diskussionen über Schule und Bildung in Deutschland besonders formalistisch, manchmal gar ideologisch geführt werden. Vielleicht liegen die Gründe dafür auch in einigen deutschen Eigenschaften, die mir immer wieder besonders auffallen, wenn ich längere Zeit in einem anderen Land gelebt habe. Darin das wir gelegentlich die Anpassung mehr lieben als den Widerstand, die Umsetzungsvorschrift wichtiger nehmen als die Grundidee oder das Ziel eines Unterfangens. Wir waren in Deutschland nie ein besonders aufrührerisches, kontroverses Völkchen. Wir haben nie eine richtige Revolution zustande gebracht.

Teil des deutschen Beitrags zur Weltliteratur ist ein Roman von Heinrich Mann mit dem Titel „Der Untertan“, den ich in meinem Deutschunterricht hier in der Schule gelesen und diskutiert habe. Ohne nachschauen zu müssen, erinnere ich mich bis heute an den ersten Satz dieses Buches: „Diedrich Hessling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und häufig an den Ohren litt.“ Das ist ein genialer Einstieg in einen Roman, aber auch eine geniale Skizze des Protagonisten in einem Satz. Diedrich Hessling war ein Weichei. Ein unsympathisches Weichei, so stellt sich im Verlaufe des Romans heraus, das mit dem Radfahrerprinzip durchs Leben kam: nach oben buckeln und nach unten treten.

Wir haben nicht das historisch  revolutionäre Gen der Franzosen, wir haben auch nicht die Lebensleichtigkeit und Genussfreudigkeit der Italiener, aber wir haben auch nicht den Mut, auch im dritte Jahrtausend an einer Staatsform festzuhalten, die noch immer einen König oder eine Königin kennt, wie es die Briten, die Schweden, die Spanier bis heute tun. Dafür sind wir Deutschen Meister der Sekundärtugenden, fleissig, gehorsam, pflichtbewusst, pünktlich, zuverlässig, ordnungsliebend, höflich und sauber. Ich stelle mir vor, ich würde mich im Internet auf die Suche nach einem Partner begeben und auf eine Anzeige stossen, deren Verfasser sich selbst mit diesen Begriffen beschreibt. Ein Alptraum.

Traumatisch und für das Bildungssystem sehr folgenreich ist tatsächlich in vielerlei Hinsicht das, was dann in Deutschland unter dem Label „die 68er“ geschehen ist. Autoritäten abschaffen,  Institutionen schleifen, endlich das Gleichheitsprinzip unter den Menschen in dieser Gesellschaft konsequent einführen, das waren die wesentlichen, zumindest die wesentlichen politischen, Motive der 68er-Bewegung. Und sie waren in vielerlei Hinsicht richtig und auch politisch notwendig in einer Gesellschaft, die in Anpassung an die Gegebenheiten und in der Verweigerung historischer Aufarbeitung erstarrt war.

So gründlich in Deutschland Autoritäten aufgebaut und respektiert werden können, so gründlich werden sie dann allerdings auch demontiert. Christian Nürnberger beginnt sein Plädoyer für die Repolitisierung des Konsumbürgers, das kürzlich in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist, mit einer Beschreibung eines Lehreralltags: der Lehrer steht vor der Klasse und versucht zu unterrichten, während die Mädchen Schokoriegel essen, Cola- und Fanta-Dosen öffnen, die Jungs sich  mit Fritten-Portionen mit Mayo und Ketchup die Bäuche vollschlagen. Er solle sich nicht aufregen, sie seien doch bald fertig, erwidern die Schüler auf die Mahnungen des Lehrers. Die offenbar authentische Klage des nichtgenannten Lehrers ist zwölf Jahre alt. Sie könnte auch von gestern sein, wobei wir dann vermutlich eher mit Handys, I-Pods oder anderen Ablenkungsinstrumenten zu kämpfen hätten. Der Autor des Essays tröstet die Lehrer mit der Erkenntnis, sie seien ja nicht allein. Zwar seien Lehrer keine Autoritäten mehr, aber Politiker seien es schliesslich auch nicht. Intellektuelle nicht. Kirchen, Parteien und Gewerkschaften liefen die Mitglieder davon. Nationalstaaten seien nicht mehr souverän. Der Marxismus sei erledigt, der Aufklärungsoptimismus vorbei, und an den Kapitalismus glaubten nur noch Banker und Mafiosi.

Wenn das tatsächlich unsere heutige Welt beschreibt, dann kann man jeden einzelnen Lehrer, jede Lehrerin nur bedauern. Dann treten sie vor ihre Klasse und wissen, sie selbst sind keine Autoritäten mehr und ihre Schüler werden nie welche werden. Sie werden nicht mehr wählen gehen, und sie werden sich nicht dafür interessieren, wer dieses Land regiert oder für den Zusammenhalt in Europa sorgt. Sie werden an nichts mehr glauben, auch nicht daran, dass man das eigene Interesse mit den Interessen anderer verbinden, organisieren, Kompromisse suchen muss. Sie werden sich nicht mehr als Bürger eines Staates oder einer Staatengemeinschaft verstehen, sondern als globale Konsumenten, die ohne ideologischen Über- oder Unterbau durch die Welt mäandern und sich hier und dort in ein Erlebnis einkaufen, wissend, dass sie hohes Risiko laufen und jede Investition von jetzt auf gleich zur Ego-Insolvenz führen kann.

Unsere Welt, unsere Gesellschaften zeigen Anzeichen des gerade gezeichneten Extremszenarios.  Aber sie sind nicht so. Davon bin ich fest überzeugt, denn es gibt viele zu viele Beispiele, die etwas anderes belegen. Schulklassen, die sich für soziale Projekte engagieren und ihre Freizeit dafür nutzen, Wellen von Hilfsbereitschaft, die sich aufbauen, wenn irgendwo in der Welt Hilfe gerade besonders gebraucht wird, wie z.B. nach dem Erdbeben in Haiti oder der Flut in Pakistan. Aber auch der Unternehmergeist junger Menschen, die eine Firma gründen, um etwas auf die Beine zu stellen, das es nicht gibt und von dem sie glauben, die Welt brauche es, natürlich um Geld zu verdienen, aber oft durchaus auch um einen Unterschied im Leben der Menschen zu machen.

Für all dies brauchen wir Bildung. Eine Bildung, die nicht in erster Linie auf Fakten, Wissen und Sekundärtugenden setzt, sondern eine, die Orientierung vermittelt, die jungen Menschen beschreiben und erklären kann, was mit Gerechtigkeit, was mit Weisheit, was mit Mässigung, mit Hoffnung oder auch Liebe gemeint sein könnte. Wie man solche Begriffe einzuordnen lernen kann, wie man sie individuell interpretieren muss, ohne dabei die anderen, die sozialen Einbettungen und Bezüge zu vernachlässigen. Wir brauchen dazu auch eine Bildung, die weder in der Kinderkrippe, noch im Kindergarten, noch in der Grund- oder weiterführenden Schule und auch nicht an der Universität allein den Mainstream fördert und fordert, die stromlinien-geformte Persönlichkeit, die immer und überall einsatzfähig und anpassungsfähig ist. Ich denke dabei an die schöne Brecht-Parabel des Herrn K.: Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge, daß er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein“, sagte Herr K., „der Mensch.“

Der Mut zu eigener Meinung und eigener Position, zum Widerspruch, auch zum Widerstand wo nötig, entsteht nicht erst im fortgeschrittenen Alter. All das wird in der Kindheit, in den jungen Jahren eines Menschen angelegt. Auch dabei ist die Schule so unglaublich wichtig: dass sie es zulässt, wenn Haltungen, Widerstände, andere Meinungen sich entwickeln. Dass sie den Diskurs, ja den Streit darüber fördert und für Ausgleich sorgt, wo es notwendig wird. Dass sie Kinder und Jugendliche ermutigt, solche Positionen zu suchen und finden, und ihre eigenen Wege zu gehen. Die schönste Geschichte, die beschreibt, was ich damit meine, hat der Philosoph George Steiner in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung beschrieben: „Als in Bern eine Kindergartenklasse im Freien ein Aquädukt zeichnen sollte, gab ein Kind den Pfeilern Schuhe. Das Kind hiess Paul Klee. Und seither sind alle Aquädukte in Bewegung.“ Ein Kind malt ein Aquädukt mit Schuhen, und von diesem Augenblick an ist die Möglichkeit in der Welt, dass Aquädukte sich bewegen. Es ist die Offenheit für das Andere, den neuen Blick, die Kreation in der Wahrnehmung gegen alle Regeln, die mich an dieser kleinen Geschichte so fasziniert. Ein junger Mensch braucht solche Erfahrungen, um zu verstehen, dass er die Welt selbst erfinden darf und nicht allein die Welt ihn erfindet. Dass er etwas wagen darf, um Perspektivenwechsel und Veränderungen hervorzurufen, und nicht nur in ausgetretene Sehkanäle und Gehpfade gezwungen werden muss.

Ich glaube, wir müssen uns gelegentlich in Erinnerung rufen, dass der Umgang mit Menschen anderen Voraussetzungen unterliegt und deshalb anders aussehen muss, als der Umgang mit Dingen. Jeder Mensch ist ein Unikat, und das zeigt sich oft schon sehr früh in den ersten Lebensjahren, wenn Kinder ihre Eigenheiten entwickeln, ihre Persönlichkeit bilden, jedes Kind sich vom anderen unterscheidet und jedes Kind seinen intellektuellen Weg geht in der Kommunikation mit anderen, den Eltern, den Geschwistern, aber auch den Lehrern. Wenn wir uns vor Augen führen, wann wir den Begriff des „Unikats“ sonst benutzen, dann landen wir schnell bei der Kunst. Ein Kunstwerk ist ein Unikat, ein einzigartiges Objekt, das es eben nur einmal gibt. Deshalb sind viele Sammler bereit, unendlich viel Geld dafür zu bezahlen. Auch der Mensch ist ein Kunstwerk und jeder Einzelne ist ein Unikat. Deshalb sollte uns seine Bildung unendlich viel Wert sein.

Apropos Wert: die Wertschätzung der Bildung und ihre Ökonomisierung haben relativ wenig miteinander zu tun. Es amüsiert mich inzwischen nur noch, wenn ich wieder ein Politiker-Zitat lese, in dem Bildung als wichtigste Ressource unserer Gesellschaft, meist unserer „Wissensgesellschaft“, bezeichnet wird. Wenn wir uns die Fakten anschauen, wird dieses Gerede zur Farce. Nur 4,8% des Bruttoinlandprodukts gibt Deutschland nach der jüngsten OECD-Studie für Schulen und andere Bildungseinrichtungen aus. Damit liegen wir weit abgeschlagen hinter vielen unserer europäischen Nachbarländer,  auch hinter der Schweiz und Österreich, deutlich unter dem OECD-Durchschnitt und weit hinter den USA, die etwa 7,5% ihres BIP für Bildung ausgeben. Wenn wir dann noch lesen müssen, dass die Bundesbildungsministerin ihr Geld nicht unterbringen kann, wird wohl jedem klar: Hier stimmt etwas nicht mit unserem Bildungssystem.

Das gilt in monetärer und qualitativer Betrachtung. Wenn wir ernst nähmen, was wir aus der Entwicklungspsychologie und der Hirnforschung heute wissen, dann müssten wir unser Bildungssystem vom Kopf auf die Füsse stellen. Das bedeutet, die intensive Förderung müsste schon im Vorschulalter beginnen, mit musikalischen, sportlichen Anreizen, mit Unterstützung des Lesens als Kernkompetenz menschlichen Lernens. Dann müssten Grundschullehrer besser ausgebildet und bezahlt werden und dann müssten wir ernsthaft über die Frage des bestmöglichen, auch sozial integrierenden Lernens verhandeln, und zwar jenseits von der antiquarischen politischen Frage, ob schlaue Kinder weniger schlaue rauf-, oder weniger schlaue Kinder schlaue runterziehen. Wenn wir wirklich überzeugt davon sind, dass Bildung die wichtigste Ressource für unsere Gesellschaft und ihre zukünftige Entwicklung ist, dann sollten wir Konsequenzen aus dieser Erkenntnis ziehen. Dann darf nicht das Studium an der Universität staatlich subventioniert werden, sondern dann müsste das bei Kinderkrippe, Kindergarten und Grundschule geschehen.

Warum der Staat daran ein Interesse haben müsste, das hat John Stuart Mill bereits vor etwa 150 Jahren mit seiner Schrift „Über die Freiheit“ auf den Punkt gebracht: „Der Wert eines Staates ist auf lange Sicht der Wert der Individuen, die ihn bilden … Und ein Staat, der die Interessen der geistigen Entwicklung dieser Individuen vernachlässigt zugunsten einer etwas besser funktionierenden Verwaltung … ein Staat, der seine Menschen verkümmern lässt, um an ihnen- selbst für nützliche Zwecke- gefügige Werkzeuge zu besitzen, wird merken, dass mit kleinen Menschen wahrlich keine grossen Dinge vollbracht werden können und dass die Vervollkommnung der Maschinerie, der er alles geopfert hat, schliesslich doch nichts nutzt. Denn er hat es vorgezogen, die lebendige Kraft zu verbannen, damit die Maschine glatter laufe.“

Eine Anmerkung erlauben Sie mir zu diesem Zitat: wenn wir das Wort „Staat“ hier durch das Wort „Wirtschaft“ ersetzen, ist der Satz immer noch gleich zutreffend und berechtigt.

3. Bildung und Wissen

Es gibt einen weiteren Grund, warum es so unglaublich wichtig ist, die Bildung unabhängiger, freier, eigenständig denkender Persönlichkeiten zu fördern und ihnen Orientierung zu vermitteln. Wir leben inzwischen in einer vollkommen anderen Zeit, als ich sie beispielsweise während meiner Schulzeit erlebt habe. Wir haben nicht mit dem Computer gearbeitet, es gab einfach keinen. Es gab auch kein Internet. Kein Facebook, keine Weblogs, kein Twitter, keine Webcams, die Tag und Nacht auf ihre Besitzer gerichtet sind, keine Chats mit Mitschülern und kein Laptop im Unterricht. Ich habe noch in einem Sprachlabor gesessen, in dem ich genau drei Knöpfe bedienen konnte.

Um eines vorweg klarzustellen: ich bin wahrlich keine Technikfeindin. Im Gegenteil: Ich benutze all diese Dinge, und ich versuche, sie so zu benutzen, dass ich die Vorteile der Kommunikation, des persönlichen Austauschs, des flexiblen und unabhängigen Arbeitens, des Kontakts zu Freunden in fernen Ländern geniessen kann. Aber ich weiss – durchaus auch durch sehr konkrete eigene Anschauung und Erfahrung – um die Probleme dieser technologischen Entwicklungen und was es bedeutet, wenn vor allem junge Menschen sich unreflektiert in sie hineinstürzen.

Die vernetzte Gesellschaft hat längst die Schulen erreicht und sie stellt sie vor harte Herausforderungen. Zum einen deshalb weil Schüler heute oft mehr wissen, als ihre Eltern und ihre Lehrer. Sie wissen, wie man mit Computern umgeht, sie sind Tekkies, die ihre Eltern und ihre Lehrer ohne Probleme jederzeit geschickt hinters Licht führen können, wenn es um Nutzungsbeschränkungen oder andere Erziehungsmassnahmen geht. Zum anderen wissen oft weder Schülerinnen oder Schüler, noch Eltern oder Lehrer, was eigentlich in der Auseinandersetzung mit den neuen Technologien und Kommunikationsinstrumenten wichtig und richtig ist.

Man muss Kindern heute kaum mehr erklären, wie Technik funktioniert. Sie sind in die Technik hineingeboren und nutzen sie als „digital natives“ nahezu intuitiv. Als mein damals 8-jähriger Neffe zum ersten Mal meinen Blackberry in die Hand bekam, hat er mir darauf einfach eine kleine Nachricht geschrieben. Ich hatte ihm das Gerät nie erklärt. Die tatsächlichen Herausforderungen dieser neuen Technologien liegen aber nicht in ihrer praktischen Bedienbarkeit, sondern in ihrer sozialen Integrationsfähigkeit. Wann sollen diese Geräte an, wann sollen sie aus sein? Kann ich am Computer alles genauso gut erledigen, das Lesen, das Lernen, das Spielen, wie ich es ohne Computer kann? Nach welchen Informationen suche ich im Netz? Wie tue ich das am besten? Woher weiss ich, was wichtig, glaubwürdig, relevant ist? Es sind die Metakompetenzen im Umgang mit Kommunikation, Information und Wissen, die heute eine ganz andere Bedeutung erlangt haben. Das meine ich mit Orientierung.

Die Herausforderung im Umgang mit Wissen liegt also darin, dass wir mit angestrengten Augen Ausschau halten müssen nach Dingen, die uns irgendwie noch mit anderen Menschen verbinden und die eine Grundlage für gemeinsame Erzählungen und Gespräche liefern, und die in einer Welt der Informationsüberflutung zu kleinen, zuweilen kaum erkennbaren Inseln der Ruhe und Beständigkeit geworden sind. Wir alle wünschen uns Überschaubarkeit. Deshalb gibt es so viele Versuche, notwendiges Wissen, Literaturkenntnis, oder gar ganz generell „Bildung“, wie Dietrich Schwanitz das in seinem gleichnamigen Werk getan hat, in einen Kanon zu pressen, mit dem jeder Mensch gut durchs Leben kommen mag.

So einfach ist das heute nicht mehr. Das Internet hat unseren kanonischen Ansatz zersprengt. Wenn Sie mich heute fragten, ob ein Schüler in der achten Klasse lieber die Namen aller europäischen Hauptstädte oder die Architektur des Internet kennen sollte, dann fiele mir eine Antwort schwer. Und ich bin nicht sicher, ob ich mich schliesslich für die Hauptstädte entscheiden würde.

Wir haben es heute also mit ganz verschiedenen Konfliktlinien zu tun: mit einem Generationenkonflikt zwischen Kindern und Eltern und Schülern und Lehrern, mit einem Anwendungskonflikt zwischen technischem Know-how und einer Kommunikations- und Wissenskultur, mit einem Wissenskonflikt zwischen Sach- und Fachwissen auf der einen und Orientierungswissen auf der anderen Seite. Die grösste Herausforderung aber liegt darin, angesichts all der wichtigen und notwendigen Neuerungen, die auch in der schulischen Bildung eine Rolle spielen müssen, nicht alles über Bord zu werfen, was doch bleiben muss.

Dazu gehört beispielsweise das Lesen. Nicht allein durch die PISA-Studien ist seine Bedeutung uns allen immer wieder vor Augen geführt worden. Lesen bringt Sinn in das menschliche Leben. Nicht nur, weil man sich mit einem guten Buch viele Stunden wunderbar beschäftigen kann. Sondern weil ohne Bedeutung im Sinne von Begriffserklärung, Auslegung, Relevanz, kein Sinn entstehen kann. Die PISA-Studie 2002 hat das Lesen als fächerübergreifende Schlüsselkompetenz bezeichnet hat und nachgewiesen, dass die Lesekompetenz auch Voraussetzung für andere Kompetenzen, wie zum Beispiel das Lösen mathematischer Aufgaben ist.

Ich erinnere mich gerne daran, dass ich in meiner Schulzeit die Leidenschaft fürs Lesen habe entdecken und weiterentwickeln können. Sowohl im Leistungskurs Deutsch als im Leistungskurs Englisch haben wir Bücher gelesen, die bis heute in meiner Bibliothek stehen, die ich immer wieder einmal zur Hand nehme, um nach eine angestrichenen Stelle zu suchen, um mich zu vergewissern, dass ich mich richtig an die Geschichte erinnern kann, um sie in einer Vorlesung oder einem Vortrag zu verwenden. So haben wir als Schülerinnen und Schüler beispielsweise immer wieder unsere Lieblingsbücher im Kurs den anderen vorstellen können und mussten begründen, warum uns das Buch gefällt, was uns an ihm gefesselt hat und warum wir es so gerne und auch mehrfach gelesen haben. In diesen Momenten geschah etwas ganz Besonderes: Der Text wurde zu meinem Text, seine Erzählung zu etwas, was ich mit den anderen teilen, womöglich gegen sie verteidigen wollte. Dann hatte der Funke der Begeisterung und Identifikation gezündet, der immer nur aus dem Menschen selbst entsteht. Man kann ihn nicht äußerlich entzünden. Aber man kann die Bedingungen schaffen, damit das Feuer brennen und sich entfalten kann.

So wie Lesen das Gehirn motiviert, sich zu verändern, sich weiterzuentwickeln und auszubilden, so motiviert die Schule den jungen Menschen, sich zu verändern, sich weiterzuentwickeln, ja vielleicht auch über sich hinaus zu wachsen. Deshalb geht es nicht darum, möglichst viele Informationen, möglichst viel Wissen in einen Menschen hineinzustopfen, sondern ihm dabei zu helfen, sich für Texte, Ideen, Eindrücke und Erfahrungen zu öffnen, die sich dann in diesem Menschen über die Jahre des Lernens und Bildens verbinden und vernetzen können, um Bedeutung zu verschaffen und dem Ich und der Welt Sinn zu verleihen.

Es geht darum, jungen Menschen zu vermitteln, dass es viele Brücken gibt in dieser Welt, die einen mit anderem Menschen verbinden. Dass man über diese Brücken gehen muss. Dass sie sich verändern und bewegen können. Und dass sie keinen Sinn an sich haben. Sie bekommen erst in dem Moment eine Bedeutung, in dem jemand sich traut, hinüber zu gehen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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