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5. Oktober 2011, 9:16 Uhr, Geschrieben von Miriam Meckel

Die digitale Lebenslinie

(www.gamerzneeds.net)

Wer sich früher einmal seines Lebens vergewissern oder auch sich durch die Zukunft überraschen lassen wollte, der ging zur Wahrsagerin. Der Blick in die Hand offenbarte die Lebenslinie, die, je nach Länge, Farbe und Verzweigungen, von der Wahrsagerin interpretiert wurde. Dabei konnte es positive wie negative Überraschungen geben, und es blieb immer ein Rest Geheimnis. Künftig reicht ein Mausklick zum Eintritt ins soziale Netzwerk Facebook, und wir sehen unser aller Lebenslinie.

„Timeline“ nennt Facebook die neue Ordnung der Dinge, die unser Leben von der Geburt bis zum Tod auf Facebook dokumentieren soll. Und diese „Timeline“, die die bisherige „Pinnwand“ ersetzen wird, hat es in sich. Wenn sie so verläuft, wie Facebook es will, dokumentiert sie künftig schlicht alles, was wir tun. Dazu müssen die Nutzer gar nicht mehr durchgängig selbst aktiv werden. Unsere Aufenthaltsorte und Tätigkeiten werden nicht mehr nur durch unsere eigenhändig eingestellten Informationen und Fotos nachgeführt, sondern auch halbautomatisch mithilfe von Apps, die mitzeichnen, welche Musik wir hören, welche Filme wir schauen, was wir gerade lesen, um unsere Facebook Freunde daran teilhaben zu lassen.

Die neue „Timeline“ setzt um, was der Informatiker und Künstler David Gelernter als unsere digitale Zukunft entwirft – den „Lifestream“, in dem alle je verfügbaren Informationen gesammelt und zu einem stetigen Strom der Daten, Bilder, Videos zusammengefasst werden. Nach Mark Zuckerberg, Gründer und CEO von Facebook, versetzt er uns in die Lage, unser ganzes Leben auf einer Seite zu erzählen. Die Frage ist nur: wollen wir das? Es gibt drei Gründe, warum man diese Frag mit ‚nein’ beantworten kann.

Zunächst gilt für das menschliche Leben der alte Satz über das Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Ich bin nicht nur das digitale Abbild meiner selbst, und sei das noch so sekundengenau dokumentiert. Facebook weiß nicht, was ich denke und fühle, tut aber so, als wüsste es das. Mit der Zeit werden wir lernen, unsere digitalen Abbilder als uns selbst zu begreifen. Die unbekannte Seite eines Menschen? Die gibt es nicht mehr, wenn sie nicht im „Lifestream“ aufscheint. Ich bin mein digitales Profil. Nie mehr, aber auch nie weniger.

Die Phasen unseres Lebens, die wir nicht gerne dokumentiert hätten, werden ganz sicher auch dort verzeichnet sein. Selbst wenn wir selbst sorgsam darauf geachtet haben, keine Informationen über unsere Ausschweifungen bei Facebook zu posten, andere werden schon dafür Sorge tragen, dass es geschieht. Soziale Netzwerke sind transitiv. Wenn A mit B und B mit C verbunden ist, dann ist auch A mit C verbunden. Informationen, die ich für meinen Facebook-Freundeskreis zur Verfügung stelle, bleiben also mitnichten sicher in diesem Kreis. Sie ziehen weiter durchs Netzwerk. Das wird sich allumfassend und unbeschränkt an mich erinnern, ob ich will oder nicht. Während wir seit Jahren darüber rätseln, wie wir das digitale Vergessen möglich machen können, um einen Rest an Privatheit zu sichern, geht es bei der „Timeline“ um lebenslanges Erinnern. Während Internetexperten gar über die digitale Reputationsinsolvenz nachdenken, um Nachsicht und die Chance auf den Neustart auch ins digitale Leben hinüberzuretten, schaltet Facebook um auf die totale Transparenz. Lebe so, dass jeder Schritt deines Lebens, alles was du konsumierst, jeder Gedanke, den du hast, jederzeit für alle sichtbar sein kann, so lautet das Motto. Schöne neue Welt eines Lebens mit der digitalen Schere im Kopf.

Mark Zuckerberg hat im vergangenen Jahr in einem Interview einen verräterischen Satz gesagt. „Du hast eine Identität“, betonte er mehrfach, „zwei Identitäten zu haben zeugt von einem Mangel an Integrität.“ Das ist ein programmatischer Satz. Facebook spiegelt künftig nicht nur eine Facette unserer Identität, es wird unsere Identität. Abweichungen von dieser digitalen Lebenslinie sind dann nicht mehr vorgesehen.

Die Algorithmen von Facebook versorgen uns fortlaufend auf Basis dessen, was wir gepostet, geliked, kommentiert, bestellt und medial genutzt haben, und berechnen daraus, wer wir sind und was wir zukünftig brauchen, mögen und tun sollten. In diesem algorithmischen Egoloop können wir es uns leicht bequem machen, weil die bewusste oder zufällige Auseinandersetzung mit andersartigen oder Themen, Angeboten und Menschen immer seltener notwendig wird. Wir werden zu dem, was eine Software für uns errechnet hat.

Wann wird das so kommen? Vermutlich dann wenn es Facebook gelingt, die junge Generation an sich zu binden und sie in die „Timeline“ einzuschleusen. Dann werden sich die gerade Geborenen irgendwann die Frage stellen, ob sie sich noch aus Facebook ausloggend können, ohne sich aus ihrem Leben abzumelden.

(siehe auch Handelsblatt v. 5.10.2011)

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