Freiheit ist eine Zumutung. Sie ist kompliziert und keineswegs selbstverständlich, und sie bleibt auch nicht von selbst, wenn einst erreicht. Das gilt für das digitale ebenso wie das analoge Leben. Und ganz besonders für die Meinungsfreiheit. Von der ist auch gedeckt, dass sich Politiker mit von Kenntnis weitgehend ungetrübten Ansichten in martialischer Sprache über mediale Schlachtordnungen äußern und darüber, wie das Netz die bürgerliche Gesellschaft bedrohe. Auch das muss gesagt werden dürfen, ganz im Sinne des immer noch eindrucksvollen Satzes von Rosa Luxemburg: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“
In Sachen Internet hat man gelegentlich den Eindruck, der Satz gelte nicht mehr. Er sei abgelöst worden durch eine Bush-Doktrin 2.0 fürs Web: Mach keinen Unterschied zwischen einem verirrten Einzelnen und seiner Partei. Mach auch keinen zwischen einer Äußerung und der Plattform auf der sie stattfindet. Bekämpfe immer beides. Der gelassene Umgang mit geistigem Unsinn wird zur verbissenen Schlammschlacht, der Austausch von Argumenten zur binären Konfrontation. 0 oder 1. Ich kann nur für oder gegen das Internet sein. Für das Internet zu sein, reicht als politisches Programm.
Die Parteien, die sich in dieser Konfrontation gegenüberstehen, sind klar abgegrenzt: Auf der einen Seite die Politiker der alten analogen Welt mit ihren Regulierungswünschen und -ansätzen. Auf der anderen Seite die Netzgemeinde, deren Glaubenssätze für die neue digitale Welt inzwischen zuweilen im Wortsinne religiöse Züge annehmen. Das hat durchaus Tradition. John Perry Barlow, einer der frühen Internetaktivisten, hat schon auf dem World Economic Forum in Davos 1996 gesagt: „Regierungen der industrialisierten Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, lasst uns allein. Ich erkläre den weltweiten Gesellschaftsraum, den wir aufbauen, als unabhängig von der Tyrannei, die ihr uns auferlegen wollt.“
Heute haben wir den weltweiten Gesellschaftsraum, von dem Barlow sprach. Die Regierungen der industrialisierten Welt haben dort wenig zu melden, es sei denn, sie engagieren sich, wie die Volksrepublik China, in der Zensur der Inhalte, um ihre Bürger zu unterdrücken. Das Fundament für diesen Raum sind die Server von Google, Facebook, Amazon. Der weltweite Gesellschaftsraum ist eine US location base. Seine virtuelle Infrastruktur, die unser aller Leben bestimmt, wird in den USA angelegt und betrieben. Von der „Tyrannei“ einiger weniger globaler Konzerne aus den USA, die uns ihre Bedingungen für ein Leben im weltweiten Gesellschaftsraum aufdrücken, ist bislang kein historisches Zitat überliefert.
Es gäbe also Themen, die unter dem Schutz der Meinungsfreiheit kontrovers diskutiert werden müssten – analog wie digital. Und es gäbe viele Argumente, die eine politische Auseinandersetzung lohnten. Dazu bräuchte es eine echte politische Debatte, der zwischen Netzgemeinde und externer Welt stattfänden, nicht zwei selbstreferentielle Diskurse, die sich zur Verstärkung der eigenen Überzeugungen in Angriffen auf die Aliens der jeweils anderen Welt erschöpfen.
Die Protestwelle um die US-Regulierungen SOPA und PIPA zum Schutz geistigen Eigentums hat gezeigt, wie stark die Netzcommunity geworden ist und wie einflussreich sie agieren kann. So sieht sie aus, die Weiterentwicklung der Demokratie in Zeiten von Social Media und Crowdsourcing. Niemand wird dieses Rad zurückdrehen, und das ist gut so. Wenn Menschen ohne technische und rechtliche Zugangshürden ihre Meinung zu politischen Fragen kundtun können, ist immer etwas Gutes für die Demokratie erreicht. Mit Einschränkungen dieser Möglichkeit und der mit ihr verbundenen fundamentalen Rechte müssen wir vorsichtig umgehen. Wenn eine Maßnahme nicht notwendig und angemessen ist, darf es keine Regulierung geben. Zensurla lässt grüßen.
Das bedeutet aber nicht, dass es gar keine Diskussion über Regulierung mehr geben darf. Wer glaubt, dass Freiheit im Internet sich allein aus den Marktkräften ergibt, glaubt an die Freiheit von Google, Facebook und Amazon. Er glaubt nicht an die Freiheit des Einzelnen und sein Recht auf Meinungsäußerung, Persönlichkeitsschutz, Privatsphäre und Eigentum. Wir müssen uns fragen, wie die digitale Infrastruktur unseres Leben aussehen soll, damit alle Freiheiten gesichert werden, von denen der Einzelne ebenso profitiert wie die Gesellschaft im Ganzen. Sich den Detailfragen der Sicherung von Freiheit im und für das Netz zu widmen, ist schon Zumutung genug. Es lohnt nicht, sich im Angriff Andersdenkender zu erschöpfen.
[Handelsblatt vom 2. Februar 2012]