Wer die Bourbon Street in New Orleans betritt, wird gleich zweifach überwältigt. Zum einen dadurch, dass es dort fast immer so riecht, als habe die Welt sich in den eigenen Schoss übergeben und nachher vergessen, sauber zu machen. Viel überwältigende aber ist die akustische Schlacht, die dort jeden Abend ab etwa 19 Uhr um die Besucher geschlagen wird. Töne werden zu Waffen, Musik wird zu Lärm, betäubend für Ohren und oft auch für die anderen menschlichen Sinne. In der Bourbon Street kann einem Riechen, Hören und Sehen vergehen.
In diesem Moment habe ich mich in den Worten Jim Morrisons gefragt: Was haben sie dieser heiteren Stadt angetan? Sie haben ihr musikalisches Erbe verwüstet und geplündert. Ihr vor Morgengrauen mit der Waffe des Konsums ins Herz gestochen, ihr die Ketten des musikalischen Mainstreams angelegt und ihr die Stimmung verdorben.
Wie bei nicht endenden wollendem Maschinengewehrfeuer werden aus Tönen Lärmsalven, abgefeuert von beiden Seiten der engen Strasse aus den dicht nebeneinander liegenden Lokalen auf jeden, der sich vom Mississippi oder vom Louis Armstrong Park aus kommend hineinwagt.
Und das sind viele. Ich schaue mich um, aber es scheint die Besucher nicht zu stören, dass mit harten Waffen um ihre Aufmerksamkeit, ihr Eintreten und ihr Geld gekämpft wird. Es scheint sie auch nicht zu stören, dass der Kampf um akustische Aufmerksamkeit zu einem Dröhnen gerät, in dem sich einzelne Musikrichtungen kaum mehr auseinander halten lassen. Das Gemisch aus um die zehn Mann starken Jazzensembles, die mehr auf den Verstärker als auf ihr musikalischen Können vertrauen, aus dem Backbeat von Deep Purple und ACDC Songs und – oh Graus! – aus melodischen Fetzen von Justin Bieber Songs – ein Bruttolärmprodukt, in dem alles aufgeht. Gesteigert durch den Umsatzdruck der zahlreichen Lokale an dieser Hauptstrasse im French Quater ebenso wie durch die ungebremste Feierlust der Touristen, die keine Gnade kennt. Nicht einmal die der Selbstachtung. Die letzten Gäste werden mit dem Müll und den Strömen von Bier und anderen Flüssigkeiten vom Gehweg gekehrt, wenn bereits der Morgen graut.
Und dies ist dann der Moment, in dem New Orleans für einen Augenblick, vielleicht eine oder zwei Stunden, in einen Zustand zurückversetzt wird, in dem man die Geburtsstadt des Jazz wiederentdeckt, so wie sie vielleicht einmal. Dann lässt es sich akustisch genussvoll auf den Pfaden des ursprünglichen Jazz von Joe „King“ Oliver, Louis Armstrong und Jelly Roll Morton wandeln, wie einzelne Musiker oder kleine Ensembles sie spielen, wenn der Krach sich gelegt hat. Dann wird aus Lärm wieder Musik, und Töne werden zu Botschaften, die sich wundersam im Hören zu einem Gesamtkunstwerk fügen. Wenn ich sehr früh morgens mein Ohr an das French Quater lege, dann höre ich die leisen, melancholischen Töne und die flirrenden Stimmen des Dixieland. Die wahre Sprache von New Orleans.
Es ist die Melodieführung des „Canal Street Blues“, die mich lockt, viel zu langsam gespielt von einer einzelnen Trompete, die die Töne ineinander fliessen lässt. Ich folge der Melodie entlang einiger kleinerer Strassen, die die Bourbon Street mit dem Mississippi verbinden, und gelange an den kleinen Platz, an dem das „Café du Monde“ seinen 24-Stunden-Betrieb wie immer aufrecht erhält, um den wenigen frühen Ausflüglern und von der Nacht Übriggebliebenen Kaffee und ein Frühstück zu offerieren. Dort sitzt ein Mann auf einer der Bänke, den Kopf über die Trompete gesenkt, und spielt. Er hat eine schwarze Mütze und eine Sonnenbrille auf und scheint nichts von seiner Umwelt wahrzunehmen. Ich setze mich auf die Bank gegenüber und höre zu. Irgendwann spielt der Mann Gershwins „Not for me“. Doch, das ist für mich, denke ich, das ist meine Botschaft. Die Beignets in dem kleinen Pappschälchen neben mir werden kalt, und mein Herz wird warm.