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13. Dezember 2012, 13:03 Uhr, Geschrieben von Miriam Meckel

Der digitale Achill

„Artistoteles wurde geboren, arbeitete und starb.“ Diesen Satz soll Martin Heidegger in einer seiner Vorlesungen gesagt haben. Damit beklagte Heidegger nicht die frühen Ausprägungen menschheitsgeschichtlicher Überlastungskonstanz, sondern wollte auf das für ihn Wichtige hinaus. „Wenden wir uns also seinem Denken zu“, so lautet die folgende Aufforderung. Nicht der CV des Aristoteles zählt, nicht die feinziselierten Erfolge und Lebensstationen machen ihn heute noch zum Orientierungspunkt für viele Menschen. Sein Denken ist es. Dafür nahm er sich Zeit. Und so entstand Bleibendes.

Die Menschen in früheren Zeiten haben es vielleicht besser verstanden als wir heute, zwischen dem Zustand der Beschäftigung und der Muße zu unterscheiden, zwischen Un-Ruhe und Ruhe, zu wechseln. Arbeit war immer ein Zustand der Un-Ruhe.  Sie hatte sich der Ruhe unterzuordnen, denn nur in Ruhe konnte der Mensch zur Muße gelangen. Und dort begann das Denken.

Was zu Zeiten des Aristoteles in selbstverständlichem Gleichgewicht war, ist heute aus dem Lot geraten. Warum wissen wir alle: Die Welt ist größer und kleiner, näher und ferner, komplizierter und einfacher zugänglich zugleich geworden. Damit müssen wir in unserem Leben umgehen. Und das macht immer mehr Menschen immer mehr Schwierigkeiten. Wir versuchen nicht, andere, neue, auch konsequente Prioritäten zu setzen, auszuwählen, das Wichtige zu tun und das weniger Wichtige sein zu lassen. Wir versuchen, immer mehr in immer weniger Zeit gleichzeitig und gleich gut zu erledigen. Wir beschleunigen im Hamsterrad und merken dabei oftmals nicht, dass wir gar nicht mehr vorwärts kommen, sondern unser Leben in einer implodierenden Rotation gefangen ist, die der französische Philosoph Paul Virilio als „rasenden Stillstand“ bezeichnet hat.

Das ist nichts Neues, lediglich die Wiedererfindung eines historisch bekannten menschlichen Problems unter anderen Vorzeichen. Hans Blumenberg hat diesen Konflikt schon beschrieben in seinem Werk „Lebenszeit und Weltzeit“ (1986) – zwei Dimensionen von Zeit, die im Zuge der Moderne zunehmend auseinanderfallen. Wir beschleunigen unser Leben exzessiv, um dadurch alles auszunutzen, was es auszunutzen gibt, denn nach dem Tod kommt ja nichts mehr. Die Idee, es könne eine weitere Zeit geben, die nach dem Tod beginnt und die den Zeitmangels im irdischen Leben heilt, haben wir im Zuge der Säkularisierung entsorgt. Also muss alles hier und jetzt sein. Das Leben ist in jedem Atemzug letzte Gelegenheit. Nutzen wir sie, und atmen wir schneller!

So kommt es zustande, dass wir um die Welt rasen in Flugzeugen, die immer schneller werden, bis sie explodieren, wie im Jahr 2000 die Concord. Und mit ihnen implodiert die Idee der grenzenlosen Beschleunigung. So checken wir atemlos unsere Emails, unsere Facebook-Status-Updates und unser Aussehen im virtuellen Spiegel des iPad um festzustellen, wer was wann von uns wollte oder auch nicht, und darauf jeweils unmittelbar, sofort und ohne viel gedankliche Zeitverzögerung zu reagieren. Bis die Instantkommunikation sich auflöst in einem dumpfen, milchigen Nebel des allumfassenden On-Seins, zusammengerührt aus zwei Millionen Suchanfragen, 100.000 Tweets, 48 Stunden Youtube-Videos, 205 Millionen Emails und 685.000 Facebook-Postings in jeder Minute unseres gemeinschaftlich beschleunigten virtuellen Lebens.

Irgendwann werden wir zum digitalen Achill. Zum digitalen Abbild des Menschen, der in dem Gleichnis des Aristoteles einen Wettlauf mit einer Schildkröte macht. Achill gewährt der Schildkröte einen Vorsprung, weil er weiß, dass er sowieso schneller ist, um dann festzustellen, dass er den Vorsprung der Schildkröte nie wieder einholen kann. Warum das so ist? In der Zeit, die Achill dafür benötigt, um die Schildkröte einzuholen, hat diese bereits einen neuen Vorsprung gewonnen. Den muss Achill dann wiederum einholen, und so geht das unendlich weiter. Die Vorsprünge der Schildkröte werden immer kleiner, aber sie bleiben Vorsprünge.

So ist es auch mit unserem Leben. Wir glauben, wir könnten den Wettlauf mit allem und jedem unter dem Gesichtspunkt der über die Beschleunigung zu bewältigenden Strecke angehen. Doch wenn wir das tun, behält das Leben immer einen Vorsprung, es ist uns immer ein Stück voraus. Denn wenn wir glauben, das eingeholt zu haben, was als Differenz vor uns lag, ist schon wieder etwas Neues geschehen, und alles beginnt von vorn. Statt zu leben laufen wir dem Leben hinterher. Ein jeder versucht so, ganz wie Achill, die Lücke zwischen dem Leben an sich und dem Leben für sich zu verkleinern.

Das Besorgniserregendste aber ist:  Manchen Menschen reicht es nicht, in der Beschleunigung systematisch zu scheitern. Sie schaffen das auch noch in der Schubumkehr, der Entschleunigung. Anstatt sich dem Leben des eigenen Lebens zuzuwenden, werden wir zu Gegenbewegungsfanatikern. Wo es Fast Food gibt, muss es nun Slow Food geben, und zwar bitte konsequent. Wo wir bislang mit Überschallgeschwindigkeit um die Welt geflogen sind, müssen wir jetzt wochenlang auf Frachtschiffen fahren oder gleich Schritt für Schritt auf jedem Differenzpunkt einer Ortsveränderung meditativ herumtrampeln. Wo wir ansonsten im digitalen Geflimmer von tausenden von Emails, Tweets und Postings gefangen sind, laden wir uns nun „MacFreedom“ auf den Computer und sagen dem Programm, wie lange wir die virtuelle Entschleunigung genießen wollen: 60 oder 480 Minuten? Nichts geht mehr dann. Der Rechner schaltet ab, damit wir Ruhe haben, und nichts und niemand wird ihn vor Ablauf der Ruhezeit wieder zum Laufen bringen.

Nicht das Leben langsamer leben, sondern Langsamkeit zum Erlebnis machen, das ist die Maxime des Entschleunigungsparadigmas unserer noch immer knappen Zeit. Langsamkeit und Ruhe auf Knopfdruck, und sei es, dass man sich mit einem Hubschrauber auf eine einsame Insel fliegen lässt, um dort exakt 24 Stunden lang zu entschleunigen und der Vita Contemplativa zu frönen. In unserem inneren Ohr hören wir schon die Rotoren, die uns bald wieder holen kommen. Auch in der Entschleunigung praktizieren wir das Muster der Effizienz durch Perfektion und Disziplinierung. „Keine Atempause, denn Pause wird gemacht, es geht voran!“

Bei manch einem Menschen kommt irgendwann der Punkt in diesem Leben, wo er feststellen muss: So geht es nicht weiter. Es gibt eine Grenze der Steigerungsmöglichkeiten in der Lebensbe- oder entschleunigung. Die Grenze läuft mitten durch unseren Kopf hindurch und auch mitten durch unsere Seele. Und wenn wir sie nicht sehen und nicht beachten und einfach immer wieder über sie drüber trampeln, dann wird sie zur Wunde, zum wuchernden Spalt, der uns irgendwann in zwei Teile reißen kann. In den Menschen, der wir sind, und in den Menschen, der wir zu sein versuchen. In der allgegenwärtigen Beachtung der Anforderungen einer beschleunigenden Welt und in der ebenso allgegenwärtig konstanten Ignoranz gegenüber der eigen Lebenszeit vergessen wir: Beschleunigung ist die Übersetzung der allumfassenden Wachstumslogik in die Zeitdimension. Und Entschleunigung ist schlicht dasselbe unter negativen Vorzeichen. Aber beides führt nicht dazu, dass wir unser Leben auch nur einmal wirklich einholen könnten. Es bleibt uns fern durch den immerwährenden logischen Vorsprung. Und wir bleiben gefangen im Hamsterrad. Die Zeitspießer der Moderne als einer unguten Kombination aus Zeitkapitalismus und Zeitpuritanismus.

Die einzige Möglichkeit, diesem Fanatismus der Zeitperfektionierung unter positiven und negativen Vorzeichen zu entkommen, liegt in der Wiederentdeckung der Eigenzeit. In der Eigenzeit empfinden wir Zeit immer in Relation zu uns selbst. Wenn wir innerhalb unseres individuellen Gravitationsfeldes bleiben, laufen unsere Uhren langsamer, die Zeit darf sich dehnen, ja sie muss es gar. Wir sind dann vielleicht nicht in Lichtgeschwindigkeit unterwegs, aber in der Zeitform, die erhellend sein kann, ja aufklärerisch im besten Sinne des Wortes. Die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Eigenzeit hält die Chance für uns bereit, aus der selbstverschuldete Zeitunmündigkeit auszubrechen. Und nur dann entstehen die Momente, die sich dehnen dürfen und in denen wir plötzlich ganz da sind für echtes Denken und für ein Empfinden des Lebens als glückliche Fügung.

Wer das nicht an und für sich versteht, der hat vielleicht eine letzte Chance. Dann nämlich, wenn ihm irgendwann im Wettlauf um Lebenszeit eine besonders kluge Schildkröte begegnet, wie sie Douglas R. Hofstadter einst beschrieben hat: Die Schildkröte sitzt mit Achill in einem chinesischen Restaurant, beide sind fertig mit Essen, und schon wendet sich Achill hastig seinem chinesischen Glückskeks zu. Und da sagt die Schildkröte zu Achill: „Leider haben Sie scheint’s einen Teil Ihres Glücks verschluckt. Was steht auf dem Rest?“

siehe auch: Handelsblatt vom 30. November 2012

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