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26. Dezember 2012, 12:17 Uhr, Geschrieben von Miriam Meckel

Das Meer der Seelenruhe

Ein Lichtfleck, gross und elipsenförmig, breitet sich vor mir aus. Der Morgenengel muss bereits da gewesen sein. Er kam, viel zu früh, als ich kurz das Zimmer verlassen hatte, um über den Flur zu streifen und um Ecken zu schauen, ob der Schlaf sich dort versteckt haben könnte. Und er hatte es eilig, wissend dass ich alsbald unverrichteter Dinge zurück sein würde. Da ist er über den langhaarigen Teppich gestolpert, und die wogenden Lichtstrahlen, die er bringt, haben sich aus seinem Korb auf den Boden ergossen. Da wabern sie nun, geschmeidig in Raum und Zeit diffundierend.

Die Welt ist dunkel, und der einzige helle Fleck in ihr ist dieses Möbel im Lichtnebel, der in einem länglichen Kegel exakt das Sofa umschliesst. Es sieht aus wie ein Raumschiff, in dem ein Mensch liegend Platz findet. Ich muss nur eine imaginäre durchsichtige Kuppel anheben, einsteigen, die Abdeckung wieder schließen und mich selbst aus der Welt katapultieren. Fliehen in den Raum, aus der Zeit, hinein in die unendliche Stille.

Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, ich könne mit meinem Bett in den Himmel steigen und dann ins Weltall fliegen, begleitet von einigen Stoffkameraden, etwas zum Lesen, einem Apfel und einem Glas Wasser als Proviant. Das Bett steigt auf, fliegt langsam in die kalte Nacht, und ich liege unter meiner warmen Decke und kann über die Bettkante hinweg auf die Erde schauen. Erst noch von Nahem, über die Dächer der Nachbarhäuser fliegend, über die Schule und den benachbarten Park hinweg. Dann schon von ferner liegt die Stadt in Gänze unter mir, ein Lichtmeer auch in der Nacht, erkennbar nur mehr noch der Fernsehturm mit seiner digitalen Uhr aus roten Lichtern, die Zeichen einer fliehenden Zeit. Dann die Stadtautobahn und die verschiedenen Brücken, der Bahnhof und das Stadion. Irgendwann ist auch die Stadt mit ihrem Lichtermeer nur noch ein heller Fleck.

Und dann, wenn ich in meinem Bett so hoch gestiegen bin, dass Städte zu Leuchtpunkten werden, dass Länder und Kontinente ineinander gleiten, dann schrumpft die Welt. Irgendwann sehe ich die Erde. Diese blau leuchtende Kugel mit braun-grünen Farbsprengseln, umfangen von weißen Schlieren wie ein kranker Augapfel, der heute klarer gesehen wird, als er selbst noch sehen kann. Ich fliege jetzt hoch genug. Noch einmal ziehe ich die Decke um mich und bin glücklich.

Als Kind wusste ich, wohin die Reise geht. Zum Mond, um dort das sechste Bein des Maikäfers wiederzuholen, dass ein irdischer Holzdieb versehentlich mit einem Birkenzweig abgeschlagen hatte. Als Kind ging alles so leicht. Das Raumschiff startete in meine Imagination, und dann kam der Schlaf, der Ruhe und Träume brachte. Heute weiss ich nicht, wohin die Fahrt gehen soll. Ich würde auch gerne etwas finden, etwas Ruhe, die Stille der Galaxien, den Schlaf, den versehentlich all die Ortsbesetzer und Zeitdiebe des Alltags aus meinem Leben vertrieben haben. Aber wohin ist er geflohen?

Inzwischen habe ich mich wieder hingelegt, das imaginäre Raumschiffdach geöffnet und wieder geschlossen. Ich liege einfach da unter meiner Decke auf diesem Sofa und betrachte den länglichen Lichtkegel nun aus seinem Inneren heraus, eingesponnen in den Kokon dieses matten, dürren Scheins, der sich wie eine Zwangsjacke um mich legt.

Jetzt fühlt es sich nicht mehr so gut an, in diesem erdachten Raumschiff festzustecken, das sich so gar nicht fortzubewegen scheint. Die Phantasie will sich nicht auf den Weg machen, nicht aufbrechen zum Mond. Sie ist gefangen in diesem Lichtkegel, ausgeleuchtet jeder Gedanke, jedes Geheimnis, bevor es entstehen könnte. Der Schlaf, er zerrt aus der Distanz am letzten Nerv, der blank im grellen Lichtschein liegt. Das Licht brennt auf jede meiner Nervenzellen hernieder, sengt die Synapsen an. Wenn der Schlaf geflohen ist, warum soll ich bleiben. Weg muss ich. Wohin nur?

Im Dunkeln, in den ferneren, uneinsehbaren Gefilden des Teppichs ertaste ich das Laptop und ziehe es ins Innere meines virtuellen Raumschiffs. Ich starte Google Earth. Wenn die Phantasie nicht reist, dann reist eben die Anschauung. Wohin nur? Ich starte in die zoomende Drehung der Erdkugel, fliege wirr um die Welt, gerate irgendwann nach Marathon, Texas, drehe die Welt immer wieder wie ein Karussell um meine eigene Blickachse und rase die US 385 Richtung Süden. Und dann, nach all den tausenden von Kilometern, die ich in Sekunden zurückgelegt habe, lande ich schliesslich wieder. Bei mir selbst. Ich bin auf das Haus zugeflogen, in dem ich liege. Ich sehe den grossen alten Baum, der im Garten steht, und dann sehe ich mich durch das Fenster in diesem Raumschiff aus Glas. Ich scheine mir zuzuwinken, nein, ich scheine um Hilfe zu winken. Als könnte ich selbst Botin des Schlafes sein, die mich holen kommt, um uns wieder zusammenzubringen.

Doch Hilfe ist von mir nicht zu erwarten, also drehe ich ab. Weg hier, alles hinter mir lassen. Nicht der irdische Flug kann Entlastung bringen, ich muss in die stille Galaxix, um zu finden was ich suche. Mit zitterndem Finger zeige ich dem virtuellen Piloten über ein kurzes Antippen des Planeten-Icons, wo ich hin will – zum Mond. An den Ort, an dem alles begann. Dort, wo Apollo 11 vor 43 Jahren zum ersten Mal aufgesetzt ist. Ein unpoetischer Platz in der Sprache der Ortung: 00.67408° nördlicher Breitengrad, 23.47297° östlicher Längengrad. Ein tiefpoetischer Ort, wenn er aus dem im Anflug mit Google Earth entsteht, das nun eigentlich Google Moon heissen müsste. Ganz langsam fliege auch aus dem Nichts darauf zu, ein Punkt nur, eine Ortsmarke in grauer Dunkelheit, auf die mein ganzes Sehnen gerichtet ist. „Rudernd in Eden, Ozean in mir, dürft ich nur ankern, heut’ Nacht in Dir.“ „Mare Tranquillitatis“ – das Meer der Seelenruhe.

Ich gleite langsam auf dieses virtuelle Meer zu und halte mich leicht westwärts. Dort tut sich ein Krater auf, breit und tief genug, um darin zu verschwinden. Aus der Dunkelheit meiner Raumschiffwelt trete ich über, irgendwie, irgendwann, in die Dunkelheit dieses Kraters, der mich einfach verschluckt.

Als ich die Augen wieder öffne, ist es hell. Das Laptop liegt geöffnet am Boden, der Bildschirm dunkel. Mühsam richte ich mich von meinem Sofa auf und strecke mich. Der Blick fällt in den Spiegel gegenüber an der Wand. Der Morgenengel schaut mich an mit zerzaustem Haar und dunklen Ringen unter den Augen. ‚Du Armer’, denke ich, ‚die ganze Nacht hast du warten müssen, um die verlorenen Lichtstrahlen wieder einzusammeln. Immerfort habe ich dich davon abgehalten. Und jetzt ist es zu spät.’

Neue Zürcher Zeitung vom 24. November 2012

 

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