Die elektronischen Bücher (e-reader) sind auf dem Vormarsch. In den USA haben E-books bereits ein Viertel des Lesemarkts erobert. An fast jedem Ort der Welt lassen sich mit Amazons „Kindle“ und Konsorten die Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt in Sekunden herunterladen. Die Geräte, handlich, leicht und immer günstiger zu haben, machen das Lesen bequem. Aber sie verändern es auch. Amazon analysiert unser Leseverhalten auf dem „Kindle“ genau. Wann wir beginnen und aufhören, ein Buch zu lesen, wo wir ein virtuelles Lesezeichen anbringen, welche Notizen wir machen, wo wir Seiten überspringen oder aus einem Buch aussteigen, all das weiss Amazon en detail. Der meist markierte Satz des elektronischen Lesens stammt aus Suzanne Collins „Die Tribute von Panem“ („Hunger Games“): „Because sometimes things happen to people and they’re not equipped to deal with them.“ Die zweit häufigste Markierung trifft den Eröffnungssatz von Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ („Pride and Predjudice“): „Es ist eine weltweit anerkannte Wahrheit …“. Die Auswertung dieser Daten wird den Buchmarkt und das Lesen verändern. Längst experimentieren Amazon und grosse Verlage damit, das Feedback aus unserem Leseverhalten direkt in neue Bücher einzuspeisen. So gibt es dann zukünftig verschiedene Versionen eines Buchs, und jeder Leser bekommt die vorgeschlagen, die am besten zu ihm passt. Unsere Leseprofile bestimmen dann, was noch geschrieben wird. Der Autor wird zum Ausführenden der aus den Daten berechneten Leserwünsche. Aber wo bleibt dann das Unbekannte, die Überraschung, die in jedem Buch auf uns wartet? Und wo bleibt der Raum für das Subjektive, die eigene Kreativität und Interpretation, die sich in der Lektüre eines Buches entfalten kann?
Ein Liebesbrief an das Buch zu Zeiten des anonymen Lesens.
Du kanntest mich nicht. Nein, nichts kanntest du von mir, als wir uns das erste Mal begegneten. Aber ich kannte dich. Da lagst du vor mir, ganz offen. Ein beschriebenes Blatt und doch jungfräulich in jedem Moment, in dem ich mich dir neu zuwende. Ich fahre mit meinen Fingern über deine Haut, während ich versuche in dir zu lesen. Ich berühre dich in den Worten, die du mir gibst, vielleicht sogar darin, wie ich sie verstehe. Ob du sie so gemeint hast? Manchmal schaue ich dich an, als wollte ich alle diese Worte verschlingen, als müssten sie verschwinden, wenn ich sie für mich eingenommen habe. Als könnte ich dich wieder zu einem unbeschriebenen Blatt  machen. Aber so hast du dich nie lesen lassen. Nicht von mir und wohl auch von keinem anderen Menschen. Ich kann ein Lot über deine Mitte ziehen, dich zur Seite legen, dich verwerfen und doch öffnest du dich wieder an der Stelle, an der ich dich verlassen habe, wenn ich das möchte. Ich konnte viel von dir wollen, eigentlich alles. Manches entwand sich leicht deiner zarten Seite, anderes musste ich dir abtrotzen.
Ohne diesen Kampf um Nähe, Wünsche und Bedeutung, hätte ich mich längst von dir abgewendet. Doch du bleibst mein Lebensfokus, jeden Tag neu. Ich habe immer um dich kämpfen müssen in jedem Wort, jedem Satz, den ich von dir bekommen habe. In diesem Kampf entstehen die Momente des wahren Empfindens, privateste Augenblicke, die du mir schenkst und ich dir. Dann gibt es nichts in der Welt, das heran- und hineinreichen kann in diesen Moment. Nur du und ich.
Was zwischen uns ist, entsteht aus diesem Ringen um Bedeutung, in das du etwas einbringst wie ich auch. Es entsteht in der Zeit, die wir miteinander verbringen und die zu den intensivsten Augenblicken gehört, voller Leben, unausgesprochenem Leben und doch in der Mitte aller Existenz. Ich bin erschöpft nach diesen Phasen des miteinander Ringens und ineinander Seins. Wie es dir geht, weiss ich nicht. Du kannst das besser aushalten vielleicht, weil du gefestigt bist, geerdet in der ersten Begegnung zwischen dir und einem anderen, aus der du hervorgegangen bist. Du bist die schönste Ausformung eines fremden Ichs, die ich mir vorstellen kann, weil du einmalig bist, exklusiv und unwiederholbar. Ich muss mit dir, deiner Entstehung, Ausformung und Prägung umgehen. Ich kann all das nicht ignorieren. Aber das Schöne ist: das muss ich auch nicht. Du ermöglichst mir in deiner subjektiven Erdung alles, was ich mir vorstellen und wünschen kann. Und nie sagst du: So ist es nicht. So bin ich nicht.
Du lässt mir immer meinen Resonanzraum. An dir, mit dir und gegen dich entstehe ich. Und wenn du dich zurückziehst, wenn du dann still an einem Ort in meiner Gegenwart verharrst, dann findet unsere Begegnung doch in mir ihre Fortsetzung. Ich nehme alles mit, was wir ausgetauscht und zusammen erfunden haben. Du geschiehst in mir, auch wenn ich dich längst nicht mehr in meinen Händen halten darf.
Heute ist all das anders. Heute kennst du mich. Wahrscheinlich kennst du mich besser, als ich dich je gekannt habe. Du weisst, wie ich mit dir umgehe, kannst jede Sekunde meines Verhaltens dir gegenüber dokumentieren, erinnern und analysieren. Du weisst, wann ich begonnen habe, mich dir zuzuwenden, und wann ich mich wieder abwende. Du kennst jedes Zeichen, das ich dir jemals gegeben habe, jede Notiz, die ich mir zu uns gemacht habe, und bewahrst alles in deiner Erinnerung auf. Vor allem aber hast du begonnen, mich zu vergleichen mit den anderen Menschen, die sich dir zugewandt und sich mit dir beschäftigt haben. Du gleichst mich ab. Du speist mich ein. Du schaust auf die Differenz zwischen mir und dem Rest der Welt.
Ich glaube, du hast dich sehr verändert. Alles, was ich einst in mir selbst bewahren musste, nachdem wir uns getrennt hatten, bleibt mir heute zugänglich. Ich kann jede gemeinsame Erinnerung, jeden virtuell notierten Gedanken wieder aufrufen. Und so muss ich mich nicht erinnern, sondern kann nachschauen. In dir bleibt alles, aber in mir bleibt nichts übrig. Wir bewegen uns nicht mehr offen durch Raum und Zeit und Interpretation. Stattdessen signalisierst du mir: So geht es, denn so wollen es auch die anderen. Ich falle mit meiner Vorstellung als eine von vielen in den Strom der Deutungen, der die eine, hauptsächliche hervorbringt, die du dann für dich und mich gelten lässt. Und so bist du auch nicht mehr Resonanzraum für mich im Ringen um Deutung. Denn ich bin nicht mehr Subjekt in diesem Widerstreit, sondern Objekt deiner Manipulation. Du bietest mir gültigen weltlichen Sinn.
Mit dir habe ich heute Gesellschaft bekommen. Globale Gesellschaft sozusagen, die uns immer umgibt, wenn wir zusammen sind. Das bringt viel Klarheit, auch Wissen darum, wie die Dinge sind. Aber unsere intimen Momente gehen darin verloren. Kann ich noch so ausschliesslich nahe mit dir sein, wenn alle Welt immer bei uns ist? Ich glaube, das geht nicht. Ich habe die Nähe zu dir in dieser umfassenden sichtbaren Gegenwart aller verloren. Und ich wünsche mir die Momente intimer Zweisamkeit zurück, die Augenblicke, in denen du mir gewährt hast, mich in aller Unbeschriebenheit dir zuzuwenden und dabei in meinen Wünschen und Vorstellungen anonym zu bleiben. Ich war unerkannt in der Welt im Sein mit dir. Du warst meine dunkle Seite. In dir habe ich gelesen, was ich noch nicht von mir wusste. Heute weisst du alles von mir und gibst es an mich zurück. Und in all diesem Wissen bleibt kein Raum mehr für Wunsch und Vorstellung.
Es ist das Prinzip von Brot und Spielen, dem du nun an erster Stelle Tribut zollst und das sich in deinen Worten spiegelt. Und es resultiert in den Worten, die wir in dir suchen. „Es ist eine weltweit anerkannte Wahrheit“, so lässt sich dein verändertes Verhältnis zur Welt beschreiben. Meine subjektive Wahrheit geht darin auf.
Siehe auch: Neue Zürcher Zeitung vom 19. April 2013