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7. September 2013, 10:09 Uhr, Geschrieben von Miriam Meckel

Alternativlos

Der deutsche Wahlkampf leidet an Zufriedenheitslähmung (Bild: http://www.handelsblatt.com/images/bundestag/6891550/2-format3.jpg)

„Alternativlos“. Dieses Wort hat die Gesellschaft für Deutsche Sprache vor drei Jahren zum „Unwort des Jahres“ gewählt. Der Begriff war durch den Sprachgebrauch der deutschen Bundeskanzlerin zu einiger Prominenz gekommen. Sie hatte die Euro-Rettungsaktion für Griechenland, den Ausstieg aus dem Wiedereinstieg in die Kernenergie oder auch das Banken-Enteignungsgesetz jeweils als „alternativlos“ bezeichnet.

Im Lichte des deutschen Bundestagswahlkampfs 2013 müssen wir feststellen: Die Jury irrte. Denn „alternativlos“ ist kein „Unwort“, sondern vielmehr die Programmatik der deutschen Politik – auf ein Wort gebracht. Alternativlos scheint der politische Kurs, den Deutschland unter der Regierung Angela Merkels seit einiger Zeit eingeschlagen hat. Denn um Alternativen ging es in diesem Wahlkampf zu keiner Zeit. Seit langem ist kein Wahlkampf mehr in so seichtem Wasser herumgedümpelt, hat kein so laues Lüftchen mehr den regierenden Parteien um die Nase geweht wie in diesem Sommer.

Warum bloss? In der Sprache des Managements kennen wir das Phänomen unter dem Satz „success breeds failure“. Zu viel Erfolg macht faul und müde, und dann entstehen Fehler. In der Politik kommen die Fehler aus der Ideenlosigkeit in der politischen Gestaltung, aus der Verweigerung kontroverser politischer Debatten, aus dem Festhalten an Altbekanntem, kurzum: aus der programmatischen Alternativlosigkeit. Für die Menschen, die Politik als Prozess der kontinuierlichen und innovativen Gestaltung von Gemeinwesen verstehen, gerät diese Alternativlosigkeit inzwischen zur Zukunftsverweigerung.

Aber wer verweigert wem etwas? Die deutsche Bundeskanzlerin verweigert sich recht konsequent der Kommunikation. Von dem Abhör- und Überwachungsskandal der Geheimdienste in den USA und Grossbritannien hatte sie angeblich aus der Zeitung erfahren. Das hat ihr ein Grossteil der Deutschen nicht geglaubt. Die Glaubwürdigkeits- und Zustimmungswerte für Angela Merkel sind auch nach dem Beginn der Affäre dennoch weiter gestiegen. Merkels Strategie des „kommunikativen Beschweigens“, wie der Philosoph Hermann Lübbe einmal den Umgang der Deutschen mit ihrer schwierigen Vergangenheit beschrieben hat, geht unter anderen Vorzeichen auch als Gegenwartsstrategie auf.

Es gibt viele Fragen und Unsicherheiten, aber wo keine Nachfrage nach Aufklärung besteht, muss die Politik sich nicht mit politischen Angeboten abmühen. Viele Bürgerinnen und Bürger verweigern sich der Auseinandersetzung mit neuen, komplexen politischen Problemen, wie unsere Gegenwart sie zahlreich auf Lager hat. Beispiel Abhörskandal: In dem Verhalten der Geheimdienste, der mangelnden Rechtsgrundlage und Transparenz liegt ein Angriff auf die Grundwerte einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft: das Recht auf Privatsphäre, auf informationelle Selbstbestimmung oder auch die Unschuldsvermutung werden radikal in Frage gestellt. Das sind Themen, die freiheitsliebende Bürgerinnen und Bürger wachrufen müssten. Nicht so in Deutschland.

Umfragen zeigen: 75 Prozent der Deutschen sind mit ihrer wirtschaftlichen Situation zufrieden. Von der profitierte in den vergangenen Jahren auch die Bundesregierung. In einem krisengeschüttelten Europa ist Deutschland der Musterschüler. Und so haben sich viele Deutsche im Jetzt eingerichtet und beobachten distanziert und desinteressiert einen kaum stattfindenden Wahlkampf, als ginge es um nichts.

Es geht aber um Vieles. Um die Zukunft der Europäischen Union als politischer Gemeinschaft, um die Staatsschuldenkrise, um die Reform des Rdntensystems, um die Gestaltung einer digitalen Gesellschaft unter dem Schutz der individuellen Freiheitsrechte, um eine moderne Familienpolitik und vieles mehr. Das meiste ist in der zurückliegenden Legislaturperiode in Deutschland auf der Strecke geblieben. Dabei lässt kaum eine dieser Herausforderungen es zu, dass Deutschland sich selbstzufrieden zurücklehnt und auf sich selbst schaut. Und so hat der britische Economist Deutschland kürzlich als „reluctant hegemon“, als zögerliche Führungsnation bezeichnet und festgestellt: Wenn Deutschland sich nicht bald seiner Verantwortung stellt, läuft Europa auf den Abgrund zu.

Es ist ein Totalitarismus des Status quo, eine Lähmung der Zufriedenheit und eine Lethargie des Gewohnten, die Deutschland durchzieht wie schon lange nicht mehr. Im Blick von aussen auf das Land, fühlt man sich gelegentlich an die fünfziger Jahre erinnert, als die deutsche Gesellschaft in Freude über das Kriegsende und den wirtschaftlichen Wiederaufschwung in spiessiger Entpolitisierung zu erstarren drohte. Konrad Adenauer, CDU-Bundeskanzler jener Zeit, hat diese Grundhaltung in seinem Wahlkampfslogan 1957 auf den Punkt gebracht: „Keine Experimente!“

Ist Deutschland also auf dem Weg zurück in die Lähmung der fünfziger Jahre? Durchläuft das Land eine neue Dekade der Erstarrung und politischen Sprachlosigkeit, um dann durch einen gesellschaftlichen Sturm durchgeschüttelt zu werden, wie ihn die 68er dann gebracht haben? Hoffentlich nicht. Um das zu vermeiden, braucht es alsbald mehr Gestaltungswillen bei den politischen Führungskräften, müssen sich die Menschen endlich wieder aus ihrer „chronischen Duldungsstimmung“ (Peter Sloterdijk) lösen. Dann ist auch Schluss mit dem Polit-Mikado, das die deutsche Politik seit einiger Zeit spielt, ganz nach dem Motto: „Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.“

Und dann dürfen wir vielleicht auch wieder auf politische Auseinandersetzungen und Debatten hoffen, die mehr sind als die Fortsetzung der Gesprächsverweigerung mit anderen Mitteln. Wie hat der britische Journalist und Autor George Orwell 1946 in seinem Aufsatz über „Politics and the English language“ geschrieben: „Political language is designed to give an appearance of solidity to pure wind.“ Im deutschen Wahlkampf 2013 wäre man schon froh gewesen, hätte es wenigstens ein bisschen Wind gegeben. Für den durchlüfteten politischen Geist ist Wind schlicht alternativlos.

Siehe auch HSG Focus (jetzt App downloaden)

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