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29. März 2015, 19:39 Uhr, Geschrieben von Miriam Meckel

Ein Abgrund

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Der Co-Pilot der Germanwings 4U9525 hat die Maschine vorsätzlich zum Absturz gebracht. Das erschüttert jedes Vertrauen.

Es gibt drei Zustände, und wir haben die Wahl: Wir verschließen, was nicht zum Menschen gehören darf; sperren das aus, was ihn zu einem unmenschlichen, zumindest aber unsozialen Wesen macht; oder wir entriegeln das schwarze Loch, das in jedem Menschen steckt – und lassen dem Grauenhaften freien Lauf; lassen ziehen, was keine Rücksicht auf nichts und niemanden nimmt.

Wäre das die Unterscheidung, sie wäre zumindest klar und einfach. Meist ist sie es nicht. Denn der Grat zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit ist schmal. Deshalb gibt es einen dritten, zittrigen Zustand, einen Zwischenraum der Norm im Alltag des Miteinanders. Er liegt irgendwo zwischen beiden Extremen und beweist immer wieder: Der Mensch ist keine Maschine. Er tickt nicht binär. Er hat mehr Varianten und Facetten. Und manche von ihnen hoffen wir nie kennenzulernen. Nicht an anderen und nicht an uns selbst.

Es gibt drei Zustände, und nur einer hat die Wahl. Im Cockpit eines Flugzeugs trennen nur wenige Zentimeter die beiden Extreme: zwischen Verschluss („Lock“) und Entriegelung („Unlock“) liegt die „Norm“. So heißt er tatsächlich, der Zwischenzustand des Normalfalls. Pilot und Co-Pilot können einen Kippschalter zwischen diesen drei Positionen verschieben. Der Normalfall ist der mittlere Zustand und ermöglicht der Crew mit einem Sicherheitscode den Zutritt zum Cockpit. Ist der Schalter auf „Lock“ gestellt, ist der Zugang für eine vorbestimmte Zeit gesperrt.

Beim Germanwings-Flug 4U9525 haben acht Minuten ausgereicht für eine tödliche Gewissheit.

Es gibt keinen Normalfall

Der Extremfall ist im Menschen angelegt. Es gelingt nicht, ihn auszuschließen. Und manchmal wird er auf besonders grausame Weise deutlich. Dann öffnet sich der Blick in ein schwarzes Loch. „Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ So beschreibt es Georg Büchner in seinem Drama „Woyzeck“.

Es ist schrecklich, wenn ein Flugzeug abstürzt. Menschen sterben, die Angehörigen bleiben ohne Antworten zurück. Und für einen Moment, manchmal sehr kurz, ist unser Vertrauen in Fortschritt und Technologie erschüttert. Dieser Absturz aber hat eine eigene Bedeutung. Es war ein Flug, gesteuert mitten in das schwarze Loch der menschlichen Extreme. Gesteuert von einem, dem die Passagiere vertraut haben. 149 Menschen sind mitgerissen worden in den Abgrund eines Einzelnen und sind darin umgekommen.

Kein Absturz eines Flugzeugs zuvor hat wie dieser deutlich gemacht, dass wir uns nur auf eines verlassen können: Der Mensch ist unberechenbar. Was auch immer über die Motive und Beweggründe des Co-Piloten der Germanwings-Maschine zutage befördert wird, wir werden nie Gewissheit haben, wie schmal der Grat ist zwischen dem „Lock“ und „Unlock“ menschlichen Grauens. Aber wir wissen: Man kann ihn im Vorfeld nicht erkennen.

Es gibt drei Zustände, und wir haben keine Wahl. Wir könnten uns am Zustand der vollkommenen Absicherung versuchen, um auszuschließen, dass so etwas je geschieht. Das wäre ein Leben, gefangen in Angst und Erstarrung. Und widersprüchlich zudem. Geht doch die Verstärkung der Cockpittüren und ihre Verriegelung auf die Folgen der Attentate vom 11. September 2001 zurück. Was mehr Sicherheit bringen sollte, hat nun 150 Menschen den Tod gebracht.

Wir könnten uns dem Schicksal überantworten. Leben als Zufallsprodukt. Überleben als Frage von Glück oder Unglück. So fatalistisch mag der Mensch mit seinem Verstand nicht sein.

Es gibt keine Wahl: Je moderner eine Gesellschaft, desto mehr Risiken produziert sie. Wenn wir von den Vorzügen der Moderne, von Wachstum und weltweitem Handel, Mobilität und Vernetzung profitieren wollen, gehen wir zunehmend Risiken ein. Daran wird auch dieser Absturz nichts ändern. Er spiegelt uns nur ungeschützt die Gewissheit des Risikos. Und in diesem Spiegel sehen wir uns selbst.

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