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28. August 2015, 12:14 Uhr, Geschrieben von Miriam Meckel

Die Kraft des Faktischen

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Die EU als Wertegemeinschaft? Dann müssen Asyl und Migration endlich verbindlich geregelt werden.

Zeichen der organisierten Unverantwortlichkeit einer überforderten EU, das waren die schier endlosen Verhandlungen um einen Kompromiss zur vermeintlichen Rettung Griechenlands im dritten Anlauf. Was wir derzeit erleben im Umgang der EU-Staaten mit der wachsenden Zahl an Flüchtlingen, ist die Steigerung davon. Es ist ein Zeichen dafür, dass die europäische Wertegemeinschaft die Luft nicht wert ist, die es braucht, um diesen Begriff auszusprechen. Eine leere Hülle. Eine Plattitüde.

Die EU zeigt sich derzeit von ihrer schlechtesten, weil hilflosen und national egoistischen Seite. Griechenland und Italien, überwältigt von der Zahl der Flüchtlinge, weisen freundlich den Weg nach Norden, weil sie keinen Ausweg mehr wissen. Der erste Fingerabdruck der Flüchtlinge gehört Deutschland, damit kein sicherer Drittstaat dazwischenkommt. Kann man es den gepeinigten Kriegsflüchtlingen aus Syrien verdenken? Nein. Richtig ist deshalb, dass Deutschland nun das Dublin-Verfahren für syrische Flüchtlinge außer Kraft gesetzt hat. Eine Anerkennung der Kraft des Faktischen.

Das wird nicht reichen. In der EU und in Deutschland müssen schnell einige grundlegende Fragen beantwortet werden. Die wichtigste davon: Was wollen wir sein? Eine rechtsstaatliche Solidargemeinschaft oder der Ort, an dem jeder sich verhält, als könne sich der andere wie Baron von Münchhausen selbst am Schopfe aus dem Schlamm ziehen?

Ist Europa eine Wertegemeinschaft? Wenn ja, dann müssen Asyl und Migration endlich verbindlich geregelt werden. Dublin ist tot. Es muss eine Kontingentlösung her. Griechenlands Schuldenfrage war den EU-Regierungschefs fast schon regelmäßige Nachtsitzungen wert. Zur Flüchtlingsfrage ist dagegen keine (in Zahlen: 0) überliefert. Es ist Zeit für Entschlossenheit und entsprechenden Verhandlungsdruck. Niemand darf sich hier aus der Verantwortung stehlen. Wenn Großbritannien sich weigert, sich bei der Lösung der Flüchtlingsfrage zu engagieren, ist das eine Entscheidung gegen Europa – mit allen Konsequenzen.

In Deutschland gilt es, zwischen Flüchtlingen aus Kriegsgebieten und wirtschaftlich motivierter Zuwanderung zu unterscheiden. Dazu brauchen wir endlich ein Einwanderungsgesetz, denn wir brauchen die Menschen. Die deutsche Bevölkerung wird nach Angaben der Vereinten Nationen von heute 81 Millionen auf 74,5 Millionen in 2050 sinken. Mit einem Durchschnittsalter von 46 Jahren sind wir derzeit nach Japan das zweitälteste Land der Welt. Für unsere Wirtschaft bedeutet das: Schon 2020 werden den Unternehmen knapp zwei Millionen gut ausgebildete Mitarbeiter fehlen. Folglich wird es auch ein Problem, das Wachstum auf Kurs zu halten, und sei es nur mit dem derzeitigen Wert von etwa 1,1 Prozent. Damit ist durchaus nicht garantiert, dass Deutschland dauerhaft das größte Land der EU nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftsleistung bleibt.

Welche Begründung man auch vorzieht, die humane oder die ökonomische: Es muss nun zügig eine Lösung her. Wenn Biedermann das Flüchtlingsthema ratlos mit untauglichen Mitteln zu verwalten sucht, sind die Brandstifter längst auf dem Durchmarsch.

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