MM_Curie
Zu den Kommentaren
20. September 2015, 9:47 Uhr, Geschrieben von Miriam Meckel

Politische Insolvenz

WiWo_Titel_39_15_Finanzamt_WEB

Die Idee eines geeinten Europas steht vor dem Bankrott. Wagen wir eine geplante politische Insolvenz der EU und einen Neustart!

„Eine neue Epoche beginnt“, lässt Ungarns Regierungschef Viktor Orbán zu den Folgen der Flüchtlingsfrage verbreiten. Seine Politik rette das „christliche Europa“. In einem Punkt hat Orbán recht. Wir stehen vor einer Zäsur.

Was wir derzeit in Europa beobachten, hat nichts mehr mit der europäischen Idee zu tun, wie sie in der Schuman-Erklärung aus dem Jahr 1950 formuliert ist: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen … Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“

Europa lässt sich auch nicht mit dem Schlagbaum oder Grenzzaun herstellen. Deshalb sind nach jahrelangen Verhandlungen die Personenfreizügigkeit in Artikel 49 des EU-Vertrags und die Reisefreiheit im Schengener Abkommen verankert worden. Wenn die neuen Grenzsicherungsmaßnahmen zur Abschirmung gegen Flüchtlinge in Ungarn, Spanien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien und den baltischen Staaten abgeschlossen sind, hat Europa wieder mehr Grenzzäune als zur Zeit des Kalten Kriegs. Allein dieser Vergleich zeigt: Es stimmt etwas nicht mehr mit diesem Europa.

Die ungelöste und bei derzeitiger Betrachtung offenkundig unlösbare Flüchtlingsfrage markiert nur die letzte Stufe in einem Eskalationsprozess, in dessen Verlauf die einstige europäische Integrationsidee implodiert. Frieden, Freiheit und wirtschaftliches Wachstum, nichts ist mehr gesetzt. Die Gäste verabschieden sich gerade von der Party, und Europa sitzt allein zu Haus. Wer die Sause zahlt, weiß niemand. Drohungen mit Mittelkürzungen an die Adresse der Staaten Ostereuropas laufen ins Leere. Zu oft hat die EU die selbst gesetzten Regeln gebrochen, zum Beispiel bei der Einhaltung der Stabilitätskriterien.

In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker versteckt einen Gedanken wieder ins Spiel gebracht, der nicht neu ist, aber zuweilen als verpönt galt: ein Kerneuropa. Er ist es wert, neu durchdacht zu werden. Juncker ist auf der Mitte der Gedankenstrecke stehengeblieben mit seiner Forderung, die Länder der gesamten Euro-Zone zum Kerneuropa zu machen. Die Krise um die mehrstufige Griechenlandrettung sollte allen klargemacht haben, wie realistisch ein solcher Ansatz ist.

Nicht der Euro, nicht die gemeinsame Währung, ist das Kernkriterium, an dem sich in Europa derzeit die Geister scheiden. Es geht um Nationalismus, Kultur und Religion. Das zeigt sich im Lichte ethnischer Argumente und in den Gesichtern der Menschen hinter Nato-Draht. Die Idee, man könne Europa immer weiter dehnen, ohne dass sich im Kern Risse zeigen, ist bankrott. Die EU mag als Freihandelszone funktionieren, als handlungsfähiger Staatenbund steuert sie auf die politische Insolvenz zu.

Es wird aus dem Kreis der EU nicht gelingen, aus der Falle zu entkommen, die für jeden zuschnappt, der sich zwischen die Fronten von Nationalismus und komplexem kollektivem Handeln begibt. Warum also treten die Staaten, die Europa wirklich wollen, nicht aus der EU aus und schließen sich neu zusammen? Das wäre eine Revolution. Ein Neuanfang. Ein Lernen aus den Fehlern der Vergangenheit. Es entstünde ein Europa, für das man sich nicht entschuldigen muss und zu dem man sagen kann: Das ist mein Land.

wiwo.de

Kommentare sind derzeit geschlossen.

© Miriam Meckel 2002 bis 2023