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10. Mai 2017, 15:42 Uhr, Geschrieben von Miriam Meckel

Reaktion und Gegenreaktion

Es gelingt keinem politischen Kopf, Fortschritt als Chance zu erklären. Der gesellschaftliche Geist, er ist auf Grund gelaufen.

Es ist eine Selbstverständlichkeit, die das dritte Newton’sche Gesetz heute atmet. Aktion und Reaktion stehen in Wechselwirkung. Jede Aktion erzeugt eine gleich große Reaktion, die auf den Verursacher zurückwirkt. Das ist Physik. Erst einmal. Und es ist auch Politik oder vielmehr: Gesellschaftskunde. Die Banalität dieses Gesetzes wird nämlich ganz schnell böse, wenn man sie aus der Mechanik der Körperphysik ins Licht der Zeitläufte zerrt.

Da stehen sich dann ganz andere Kräfte gegenüber, die der liberalen Ordnung und der Verteidigung von Vergangenem. Sie kämpfen sehr hör- und sichtbar gegeneinander, vor allem an den Fronten der Globalisierung. Die britische Entscheidung zum Austritt aus der EU, die längst in der Illusionswelt des Gestrigen stecken geblieben ist, die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten aufgrund wirtschaftspolitischer Versprechen aus den Anfängen des Industriezeitalters und der Aufstieg rechter Parteien in vielen europäischen Ländern zeugen davon, dass gerüstet wird für die politische Wechselwirkung. Der Gegenschlag gegen den vermeintlich aktionistisch vorangetriebenen Liberalismus steht bevor. So wünschen es sich die Kadetten der politischen Nostalgie.

Vielleicht werden sie in diesem Jahrzehnt einen interimistischen Sieg davontragen. Das kann geschehen, wusste schon Joseph de Maistre, Angehöriger des katholischen Adels, der angesichts der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal das reaktionäre Denken als Gegenstrategie zum Terror der Revolution beschrieb. Er war Vertreter der Gegenaufklärung. Die setzt, ganz im Newton’schen Sinne ein, wenn Nostalgie von der Hilfe zum Hindernis wird.

Psychologische Forschung zeigt, dass Nostalgie den Wandel erst erträglich macht. Aus der Erinnerung an das, was einst gut und schön war, entsteht Vergewisserung: Es kann wieder so werden. Aber Politik ist eben nicht Physik. Und so kann die Gegenreaktion auch ganz unproportional ausfallen. Dann wird Nostalgie zur Ideologie im Kampf ums Gestern.

Zurzeit gelingt es keinem führenden politischen Kopf, die Geschichte des Fortschritts über die Chancen zu erzählen, die mit ihm verbunden sind. Der Geist der Modernisierung ist irgendwie auf Grund gelaufen. Einst schrieb der kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila: „Der Reaktionär ist die Reaktion auf den Aktionär.“ Den Satz eines weiteren radikalen Vertreters der Gegenaufklärung versteht man heute kaum mehr, weil „Aktionär“ in der deutschen Sprache nur mehr für Anteilseigner steht.

Warum eigentlich überlassen es die Aktionäre allein der Politik, überzeugend vom Fortschritt zu erzählen? Als Anteilseigner an den Unternehmen sind sie die wichtigsten Protagonisten der Modernisierung. Ihre Treuepflicht gilt nicht nur dem Unternehmen, an dem sie beteiligt sind. Sie gilt auch dem größeren Ganzen. Noch nie ist die Wirtschaft am Reaktionär gewachsen.

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